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Damals warst du still

Titel: Damals warst du still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa von Bernuth
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sie?«, wiederholte er. Die Gruppe hinter ihm verhielt sich totenstill.
    David glaubte, nicht antworten zu können. Er sah erneut in Plessens Augen, bemüht, aus ihnen Kraft zu schöpfen. Aber es kam nichts aus ihnen. Plessen holte tief Luft – »wir haben Zeit, David, nimm sie dir, niemand muss sich hier beeilen« – und legte den Kopf in den Nacken. In der Ecke des hohen Raums stand eine Art Podest, das David zum ersten Mal in diesen zwei Tagen bemerkte. Darauf thronte eine Skulptur, die drei Affen darstellte. Der eine hielt sich die Augen, der andere die Ohren, der dritte den Mund zu. Der dritte war er.
    »Deine Mutter. Möchtest du nicht über sie sprechen?« Fabians Stimme war heiser und sanft und dabei von einer unbeugsamen Festigkeit. Er sprach sehr langsam und musste niemals laut werden, um sich Gehör zu verschaffen. Es war im Gegenteil so, dass selbst geschwätzigste Zeitgenossen in seiner Gegenwart verstummten. Ihre Mienen, normalerweise in ständiger nervöser Bewegung, entspannten sich, während sie ihm zuhörten.
    David schüttelte den Kopf, während ihn Bilder überwältigten. Immer neue Tränen kamen, als hätte er innerlich einen Wasserhahn aufgedreht.
    Seine Mutter hatte heute Migräne, deshalb wollte ihn sein Vater in die Schule bringen, obwohl er eigentlich etwas anderes vorgehabt hätte. Damals passierte das mindestens zwei-, dreimal im Monat, manchmal hatte sie auch mehrere Anfälle in der Woche. Entsetzliche Kopfschmerzen quälten sie, und neben ihrem Bett stand eine Schüssel, in die sie immer wieder erbrechen musste. Man hörte das Geräusch bis in sein Zimmer. David sah es wieder vor sich: Die weißen, kahlen Wände, sein Bett in der Ecke, mit dem rotbraun karierten Bezug, die beiden eng nebeneinander stehenden Fenster gegenüber, durch die man nicht den Himmel, sondern nur die graue Brandmauer vom gegenüberstehenden Haus sehen konnte.
    Er saß auf seinem Bett, den Kopf zwischen seinen Armen verborgen. Vor ihm stand sein Vater in Uniform, die Hände in die Seiten gestützt, mit dem Knüppel am Gürtel, in Davids Augen riesengroß, schlank und sehnig, schwer atmend. Langsam und deutlich sagte er: EINE SOCKE VERSCHWINDET NICHT EINFACH SO. SIE IST HIER IRGENDWO. UND JETZT BEEIL DICH, SONST…
    »David.«
    Fabians Stimme durchdrang den Tumult in seinem Kopf.
    »David, rede mit uns. Du bist jetzt ganz weit weg. Komm zurück zu uns. Jetzt!«
    David fühlte, wie Leben in seine steifen Glieder zurückkehrte, das Blut in seinen kalten Händen zu zirkulieren begann, die Tränen versiegten. Er lächelte dankbar und wechselte seine Position.
    »Wo warst du?«, fragte Plessen.
    »Zu Hause. Mein Vater... Er hat mich geschlagen. Ich weiß nicht mehr, weswegen.« Es war ihm zu peinlich, diese Geschichte mit der Socke vor allen zu erzählen.
    »Und deine Mutter?«, fragte Plessen. Er beugte sich vor, ein alter Mann mit üppigem weißem Haar, der in tadellosem Schneidersitz vor ihm saß. Er nahm Davids Blick auf, zentrierte und beruhigte ihn.
    »Meine Mutter... war krank.« Migräne. Das klang ebenfalls so lächerlich. Nach einer typisch weiblichen Ausrede.
    »War sie das öfter?«
    »Ja. Oft.«
    »Dann konnte sie dir nicht helfen, wenn dein Vater dich schlecht behandelte. Sie konnte dann nicht für dich da sein. Dich nicht verteidigen gegen seine Wut.«
    »Nein.«
    »Du warst ganz allein.«
    »Ja.« Ganz allein. Die Worte hallten in seinem Kopf wider, drangen tief in sein Bewusstsein. David weinte nicht mehr. In ihm breitete sich eine so elementare Schwäche aus, dass er glaubte, sich nicht mehr aufrecht halten zu können. Er befand sich in der Hölle, und die Hölle war bewohnt von einer einzigen Person: seinem Vater. David hatte erlebt, wie Helmut zusammengebrochen war, und er hatte ihn für einen verrückten Schwächling gehalten. Er hatte gedacht, er wäre besser als Helmut, cooler, stärker, aber das stimmte nicht. Er war eher noch schlechter dran, denn nichts und niemand hatte ihn auf das vorbereitet, was er jetzt erlebte.
    Vielleicht, dachte er mitten in seinem privaten Inferno, war es gut, all das einmal herauszulassen. Vielleicht musste das eines Tages passieren: dass er Druck abließ wie ein überhitzter Dampfkessel. So zumindest hatte es ihm der Polizeipsychologe erklärt, den sie bei der Drogenfahndung in regelmäßigen Abständen konsultieren mussten, weil, so hieß es von oben, ihr Job seelisch so belastend sei. Der Polizeipsychologe, ein Mann mit Glatze und schwitzigen Händen, hatte David

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