Damiano
ganz allein in der Nacht, wo gerade zuvor so viele Menschen ihr Leben verloren hatten?
»Signora, seht doch!« flüsterte Carla und wies in die Dunkelheit. »Sehen Sie?«
»Sehen? Kind, ich kann kaum Euren Finger sehen, so finster ist es«, gab die alte Frau höhnisch zurück.
Unvermittelt wandte sie sich ab und trat durch die Tür.
Carla Denezzi sank in der Kälte auf die Knie. Im Gedenken an den Engel sprach sie ein stummes Gebet, um für alle Menschen, ob tot oder lebendig, Frieden zu erbitten.
Die Nacht war schwarz. Nicht einmal ein kleines Stückchen Mond glänzte am Himmel. Damiano stand allein in der klirrenden Kälte, und sein Atem peitschte ihm wie feiner Schneefall ins Gesicht.
Er hatte Angst, wenn auch nicht vor der Kälte. Sein Stab stand vor ihm, ohne daß seine steifgefrorenen Hände ihn fühlten, während er Worte flüsterte, von denen er nicht wußte, daß er sie je gelernt hatte – es sei denn, er hatte sie im Schlaf von seinem Vater gehört. Mit einem Prickeln schauriger Erregung erriet Damiano, daß sein Vater diese Worte mindestens einmal gesprochen hatte.
»Sator arepo tenet opera rotas. Ades, Satan!« sprach er, doch vor dem letzten Wort, Dominus, schreckte er zurück und ließ es ungesagt.
Diese Unterlassung hatte keine Bedeutung; ein Schleier der Schwärze nämlich löste sich aus der Nacht und schleuderte Damiano in die Luft – oder in den Boden. Er konnte den Unterschied nicht feststellen, denn sowohl Luft als auch Erde waren plötzlich hart und feindselig geworden. Seine Glieder waren in unkeuscher Lähmung erstarrt, und er hatte keine Luft, um zu schreien. Er segelte durch Stürme, die Wirbelströme des Schmerzes waren.
Dies ist die Hölle, dachte er. Er hatte kein Gespräch mit dem Teufel gebraucht, sie zu finden. Er formte die Worte »O Gott«, ohne zu wissen, daß er sie sagte.
Die Finsternis zerriß unter einem Ansturm hellen Mittagslichts. Damiano legte seine Hand an sein Gesicht und vermerkte mit staunender Verwunderung, daß er noch auf den Füßen stand, daß sein blinder, rasender Flug die Falten seines Umhangs nicht in Unordnung gebracht hatte.
Unter seinen Füßen war Fels, rund und ausgehöhlt wie ein Flußbett, aber von blaßrosa Färbung. Riesige Zacken des gleichen Gesteins ragten von der Höhe herab. In der Ferne türmte sich eine Wand auf, die höher war als der Großvater selbst und eine gewaltige runde Öffnung hatte wie ein Fenster. Dahinter –
Mit Entsetzen begriff Damiano, daß die runde Öffnung in der Tat ein Fenster war und die Wand in der Tat eine Wand, und der runde, fleischfarbene Fels, auf dem er hoch über dem Boden stand, war eine Hand. Eine geöffnete Hand. Er fuhr so hastig herum, daß er stürzte, auf eine Handfläche niederfiel, die mindestens so hart war wie Flußgestein.
Das Antlitz Raphaels neigte sich zu ihm herab, schön, rein, klar gemeißelt. Es war das Gesicht des Engels, doch es war heiß und rot und gewaltig wie eine Berglandschaft.
»Muttergottes!« schrie Damiano voller Schrecken auf.
Augenblicklich zog sich das Gesicht zurück.
»Würde Pater Antonio solche Ausdrucksweise gutheißen?« fragte es. »Die schlichte Höflichkeit verbietet…«
Die Stimme, die diese Worte sprach, war, wenn auch natürlicherweise von mächtigem Umfang, kultiviert in ihrem Ausdruck und wohlmoduliert in ihrem Ton. Dennoch hatte sie etwas von dem spröden, rauh knirschenden Geräusch eines Spatens an sich, der durch Aschehaufen sticht. Es war ganz und gar nicht Raphaels Stimme.
Und das Gesicht war dem des Erzengels doch nicht ganz so ähnlich, wie Damiano zuerst geglaubt hatte. Die mageren Wangenknochen schwangen sich unter den Augen aggressiver nach außen, barbarischer vielleicht und vielleicht auch interessanter. Raphaels Haar, das gewiß licht war, hätte neben dem Gold des Haares, das diesen gewaltigen Kopf lockig umrahmte, allenfalls flachsblond gewirkt. Dieses Gold hätte verdient, zu Münzen geprägt zu werden.
Dann fiel Damiano ein, daß auch Luzifer seinen Weg als Erzengel begonnen hatte, und nun wußte er, daß er den vor sich hatte, den er gerufen hatte. Er hockte sich auf dem Handteller des Teufels nieder, legte seinen Stab quer über seine Knie und betrachtete das riesige Gesicht.
Die schrecklichen Augen verengten sich, wie sich die Augen eines Menschen verengen, wenn er sie auf einen winzigen Käfer richtet, den er gefangen hat.
»Nun, was gibt’s, mein Freund? Hattest du diese kleine Reise nicht erwartet? Glaubtest du, ich
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