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Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches

Titel: Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mitch Albom
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sind indessen ebenso verschwunden wie die Presbyterianer, und jetzt wirkt die Kirche in dieser armen trostlosen Gegend einsam und verlassen: Der Putz bröckelt von den Wänden. Das Dach hat Löcher. Einige der Buntglasfenster sind gestohlen worden, und die leeren Fensterhöhlen hat man mit Brettern zugenagelt.
    An dieser Kirche kam ich immer vorbei, wenn ich zum Tiger Stadium, einem berühmten Baseballstadion, fuhr. Ich habe sie nie betreten, und ich sah auch nie jemanden reingehen.
    Meines Wissens wurde diese Kirche nicht mehr genutzt.
    Doch ich sollte bald eines Besseren belehrt werden.
    Seit der Rebbe mich mit den Worten »Feinde, papperlapapp« verblüfft hatte, hatte ich viel über meine eigenen Vorurteile nachgedacht. Ich bemühte mich zwar, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu sein, musste aber feststellen, dass ich geistig noch immer Grenzen zwischen »meiner« und »der anderen« Seite zog – und zwar sowohl in kultureller und ethnischer als auch in religiöser Hinsicht. Wie viele andere Menschen hatte auch ich gelernt, dass man zuerst seinesgleichen helfen soll und dann erst den anderen.
    Doch wer war »meinesgleichen«? Ich wohnte weit entfernt von dem Ort, an dem ich aufgewachsen war. Ich hatte eine Frau geheiratet, die einer anderen Religion angehörte. Ich war ein Weißer in einem zunehmend afroamerikanisch geprägten Stadtviertel. Und während es mir finanziell gut ging, wurde Detroit zusehends ärmer. Die Wirtschaftskrise, die uns bald ereilen sollte, kündigte sich bereits an: Es gab immer weniger Arbeitsstellen. Privathäuser wurden versteigert, öffentliche Gebäude standen leer. Unsere Haupteinkommensquelle, die Autoindustrie, brach ein, und die Zahl der Arbeitslosen und Obdachlosen nahm bedrohliche Ausmaße an.
    Eines Abends stieß ich in Downtown auf eine christliche Sozialstation, eine Obdachlosenunterkunft. Ich beschloss, dort zu übernachten und dann darüber zu schreiben. Ich stellte mich in die Schlange, um Seife und eine Decke zu bekommen. Man wies mir eine Liege zu. Ein Priester sprach über Jesus, und ich wunderte mich, wie viele der erschöpften Männer aufmerksam zuhörten. Trotz ihrer Lage schienen sie noch an ihre Erlösung zu glauben.
    In der Essensschlange drehte sich ein Mann zu mir um und fragte, ob ich tatsächlich der sei, für den er mich hielt.
    Ja, antwortete ich.
    Der Mann nickte langsam.
    »Und … was ist Ihnen passiert?«
    Dieser Abend veranlasste mich dazu, eine Wohltätigkeitsorganisation für Obdachlose ins Leben zu rufen. Meine Mitstreiter und ich sammelten Geld und verteilten es an Obdachlosenunterkünfte. Wir waren stolz darauf, dass wir ohne Verwaltungsgebühren auskamen, und wenn wir nicht genau nachvollziehen konnten, was mit den Geldern geschah, stellten wir die Zahlungen ein. Was bedeutete, dass wir sehr häufig persönlich vor Ort sein mussten.
    Deshalb parkte ich an einem schwülen Septembernachmittag vor der halb verfallenen Kirche an der Trumbull Avenue. Man hatte mir gesagt, der Pastor dieser Kirche habe dort eine kleine Notunterkunft eingerichtet, und ich wollte nachsehen, ob man unsere Unterstützung brauchte.
    Eine Ampel schwankte im Wind. Ich stieg aus und verriegelte den Wagen per Knopfdruck. An die Wand der Kirche gelehnt saßen ein Mann und eine Frau, beide Afroamerikaner, auf billigen Klappstühlen und starrten mich an. Dem Mann fehlte das linke Bein. Ich suche den Pastor, sagte ich.
    Die Frau erhob sich und schob eine schiefe rote Tür auf. Ich wartete. Der Einbeinige, dessen Krücken an seinem Stuhl lehnten, lächelte mir zu. Er trug eine Brille und hatte die meisten seiner Vorderzähne eingebüßt.
    »Ziemlich warm heut«, sagte er.
    Ja, erwiderte ich.
    Ich wurde unruhig und warf einen Blick auf meine Uhr. Schließlich sah ich, dass sich drinnen etwas rührte.
    Und dann trat ein Mann durch die Tür.
    Ein enorm schwergewichtiger Mann.
    Später erfuhr ich, dass er fünfzig Jahre alt war, doch das Gesicht mit dem dünnen gestutzten Bart wirkte noch jungenhaft. Er war so groß wie ein Basketballspieler, musste aber an die 180 Kilo wiegen. Sein Körper schien nur aus Wülsten zu bestehen: Die massige Brust sackte auf den riesigen Bauch, der wie ein Kissen über den Gürtel seiner Hose hing. Seine Arme in dem gigantischen weißen T-Shirt standen vom Körper ab. Die Stirn des Mannes war von Schweißperlen bedeckt, und er atmete so schwer, als sei er gerade eine Treppe hinaufgestiegen.
    Wenn das ein Mann Gottes ist , dachte ich bei mir, dann

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