Damit ihr mich nicht vergesst - Die wahre Geschichte eines letzten Wunsches
lachte. »Das ist mir einer«, sagte sie. »Er singt die ganze Zeit.«
Ja, ich weiß, erwiderte ich.
Ich fand es erstaunlich, wie es dem Rebbe gelang, seinen Humor zu bewahren. Er trällerte den Krankenschwestern etwas vor und scherzte mit den Ärzten. Als er tags zuvor im Rollstuhl auf dem Korridor auf eine Untersuchung wartete, wurde er von einem Handwerker um einen Segen gebeten. Worauf der Rebbe dem Mann die Hände auf den Kopf legte und ihm diesen Wunsch erfüllte.
Der Rebbe hatte nicht die Absicht, sich in Selbstmitleid zu suhlen. Im Gegenteil: Je schlechter seine Lage war, desto mehr schien er sich zu bemühen, andere nicht damit zu belasten.
Während ich in seinem Zimmer bei ihm war, wurde im Fernsehen ein Werbespot für ein Antidepressivum gezeigt. Man sah Menschen, die alleine an einem Strand hockten oder aus einem Fenster starrten.
» Ich habe ständig das Gefühl, dass gleich etwas Schlimmes passiert …«, hörte man dazu jemanden sagen.
Nachdem das Medikament und einige Grafiken gezeigt worden waren, sah man die Leute von vorher, die nun fröhlicher wirkten.
Der Rebbe und ich schauten uns das Ganze schweigend an. Als der Spot vorbei war, fragte der Rebbe: »Glauben Sie, dass diese Pillen etwas nützen?«
Jedenfalls nicht auf diese Art, sagte ich.
»Ja«, meinte er. »Das denke ich auch.«
Glück durch Tabletten. So sieht unsere Welt aus. Milliarden werden ausgegeben, um diese Antidepressiva zu bewerben. Und Milliarden werden ausgegeben, um sie zu kaufen. Man braucht dafür nicht einmal ein besonderes Trauma zu haben, sondern muss einfach nur »Depression« oder »Angst« angeben. Als ob Traurigkeit etwas wäre, das man kurieren könnte wie einen Schnupfen.
Ich war mir im Klaren darüber, dass Depression in vielen Fällen eine Krankheit ist, die behandelt werden muss. Ich wusste jedoch auch, dass wir dieses Wort zu leichtfertig benutzen. Was häufig als »Depression« bezeichnet wird, ist manchmal einfach Unzufriedenheit, die daraus resultiert, dass wir unsere Ziele zu hoch stecken oder Belohnungen erwarten, für die wir nicht zu arbeiten bereit sind. Ich kannte Leute, deren unerträgliches Leid durch ihr Gewicht, ihren Haarverlust, ihre ausbleibende Beförderung am Arbeitsplatz oder ihr Scheitern bei der Partnersuche verursacht wurde – obwohl sie selbst sich nicht partnerschaftlich verhalten konnten. Für solche Menschen ist Unglück ein Leiden, ein unerträglicher Zustand, den sie nur allzu bereitwillig und unter Zuhilfenahme von Pillen verändern wollen.
Pillen können jedoch die Ursache der Probleme nicht beseitigen. Dass man nämlich nicht bekommt, was man unbedingt haben will. Dass man durch den Blick in den Spiegel sein Selbstwertgefühl nicht aufbessern kann. Dass man ununterbrochen arbeitet und sich dann fragt, weshalb man so unzufrieden ist – nur um im Endeffekt noch mehr zu arbeiten.
Ich kannte mich damit bestens aus, denn ich selbst hatte mich genauso verhalten. Es gab eine Phase in meinem Leben, in der ich nur noch mehr hätte arbeiten können, wenn ich nicht mehr geschlafen hätte. Ich erntete Anerkennung und verdiente Unmengen Geld. Und je länger diese Phase andauerte, desto leerer fühlte ich mich, so als würde ich immer schneller Luft in einen geplatzten Reifen pumpen.
Die Zeit, die ich mit Morrie, meinem einstigen Professor verbrachte, veränderte damals meine Haltung. Ich erlebte sein Sterben mit und sah, was für ihn angesichts des eigenen Endes noch von Bedeutung war. Danach gestaltete ich meine Tage anders und arbeitete weniger.
Aber ich wollte immer noch das Lenkrad selbst in Händen halten. Dem Glauben oder dem Schicksal wollte ich nichts überlassen. Ich fand Menschen erschreckend, die ihr Leben in göttliche Hände legten und sagten »Es ist Gottes Wille.« Ich schwieg, wenn mir jemand sagte, das Zwiegespräch mit Jesus sei für ihn das Wichtigste im Leben. Eine solche Haltung schien mir töricht, und ich fand, ich sei klüger. Doch im Grunde genommen hätte ich nicht behaupten können, dass ich glücklicher war als diese Menschen.
Deshalb fiel mir nun auf, dass der Rebbe zwar haufenweise Medikamente gegen seine Krankheiten schlucken musste, für seinen Seelenfrieden aber gar nichts einnahm. Er lächelte gerne und mied den Zorn. Er wurde nie von Sinnfragen wie »Warum bin ich hier?« gequält. Er sagte, er wisse, warum er hier sei: um anderen Menschen etwas zu geben, um Gott zu feiern und die Welt, in der er lebe, zu genießen und zu ehren. Sein Morgengebet
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