Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
Schwellensituation: der Kindergarten. Kann sich unser Kind integrieren, findet es Freunde? Dann die erste große Belastung: die Einschulung. Die Angst ist inzwischen kein mickriges Unkraut mehr, das man mit einer entschlossenen Handbewegung ausreißen kann, sondern eher ein Schlingpflanzengewächs, das durch die Familienräume wabert und sich im Wohnzimmer ebenso ausbreitet wie im Kinderzimmer, in der Küche. Manchmal bahnt sich dieses Schlingpflanzengewächs seinen Weg sogar schon ins Ehebett: »Du, Florian hat eine Mitteilung im Hausaufgabenheft stehen, dass er wieder keine Hausaufgaben gemacht hat...« Der Übertritt an eine weiterführende Schule steht bevor. Die Angst lächelt gemein. Sie wächst, legt an Gewicht zu, die anderen sichtbaren Familienmitglieder leiden mehr oder weniger unter Appetitverlust. Kein »Freude, schöner Götterfunken« mehr, solche erhebenden Wohlklänge klingen nur noch vereinzelt an, sondern Ärger
und Stress mit den Götterjünglingen und -töchtern von einst. Auch der Göttergatte hat an charmanter Aufmerksamkeit schon lange eingebüßt.
Die Mutter spricht mit dem Vater, der Vater ermahnend mit dem Sohn oder der Tochter, wobei sich die Tochter die warnenden Worte des Vaters bedeutend mehr zu Herzen nimmt als der bockige Bruder. Die Angst kriegt in diesem Alter nicht so richtig Platz bei den Töchtern, denn diese sind gewillter, den elterlichen Ängsten durch schöne Schrift und regelmäßige Erledigung der Hausaufgaben vorzubeugen als die gleichaltrigen Jungen. Die Jungen bewegt mit neun oder zehn Jahren nicht so sehr das Ergebnis des letzten Aufsatzes, sondern die Zeit, die sie für 50 Meter gebraucht haben im Sport. Und ob sie ein Alphatier sind im Klassenverband oder als Angsthase gelten.
Die Zeit vergeht. Es ist eine Ewigkeit her, dass Mutter und Vater zusammen, nur sie allein, essen waren, sich für einen Kinofilm begeistert haben, im Bett gestöhnt haben vor Lust, nicht vor Sorge. Die Angst lächelt wieder. Sie hat alles im Griff, sogar die Blicke der Eltern. Diese wandern wie von selbst zu den größeren Kindern hin. Größere Kinder, größere Sorgen, raunt der Volksmund. Die Eltern leihen ihm ihr Ohr. Und der Blick des Vaters gleitet schnell wieder von seiner Frau weg, die sich eh nur beklagt, für die ganze Familie der Mülleimer zu sein. Und die Mutter, die jetzt schon so viele Jahre Mutter ist und ganz vergessen hat, dass sie für ihren Mann einst eine begehrenswerte Frau war, zuckt resigniert die Schultern und folgt den Blicken ihres Mannes. Beide haben wieder das Ruder ergriffen. Das Familienschiff, für einen kurzen bitteren Moment ins Schlingern geraten, hält wieder Kurs. Die zwei Kapitäne, für einen Bruchteil einer Sekunde in Gefahr, als Schiffbrüchige durch das weite Meer ihrer traurigen Seele und enttäuschten Wünsche zu treiben, steuern wieder auf ihr altes, neues Ziel zu: »Also, so geht das nicht weiter,
Tobias/Katharina, du hängst nur rum, hast keine Ziele mehr. Ohne Abitur biste gar nichts...«
Auch Eltern lügen manchmal.
Solche Elternbotschaften stimmen nicht, aber sie entfalten in der Kinderseele Wirkungen wie ein wüster Orkan. Kinder, die mit solchen Botschaften aufwachsen, suchen vergeblich nach Flügeln in ihrem Reisegepäck. Vieles kramen sie hervor, Vorschriften, Spielregeln, Kataloge, gefüllt mit Bildern von Abgestürzten, Behinderten, Arbeitslosen, Verarmten, Drogensüchtigen. Wo nur stecken die verdammten Flügel? Wo sind die Kinder, die wie Ronja Räubertochter mit neugierigem Blick in den fremden, unvertrauten Wald aufbrechen? Wo sind die kleinen Ronjas und Birks, die nicht mehr darauf warten können, die Welt zu entdecken und die ihr innewohnenden Herausforderungen zu meistern? Wir waren doch alle einmal neugierig, mutig und unersättlich, waren... waren einfach normale Kinder.
Dieses Buch, um es ganz deutlich zu sagen, ist kein Schulden-Buch, in welchem Elternfehler aufgelistet oder Eltern an den Pranger gestellt werden. Die Eltern sind nicht schuld, wenn ihre Kinder noch keine starken Flügel ausgebildet haben oder noch mit geringer Flugkraft in den aufregenden, wunderschönen Ländern ihrer Seele unterwegs sind. Die Flügel der Erwachsenen sind doch manchmal auch etwas verkümmert. Angst essen Seele auf.
Auf den folgenden Seiten stehen Wechselwirkungen im Vordergrund, manchmal sind es günstige, manchmal eher ungünstige. Es sind nur Wechselwirkungen - und die sind etwas Bewegliches und somit korrigierbar. Schuld spielt hier
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