Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
keine Rolle. Schuld ist ein Flügelkiller par excellence. Wer sich schuldig fühlt, ist für die Lebensfreude verloren. Und wie viele Eltern kommen in die Praxis mit dem Gefühl, versagt zu haben oder, milder, ihren Kindern nicht ganz gerecht zu werden! Ich kenne nichts Vergleichbares im unendlichen
Land der Seele, was Flügel so zu stutzen vermag, wie Schuldgefühle.
Ich hatte zu Beginn meiner Arbeit als Kinderanalytikerin einen großen und fast heiligen Respekt vor Schuldgefühlen. Ich habe ihn verloren. Und das ist gut so. Ich schiebe ihn, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, sanft aus dem Therapiezimmer hinaus und hole statt seiner die Verantwortung herein. Mit einem Gefühl der Verantwortung lässt sich so viel besser arbeiten. Schuld lähmt und macht passiv. Das Gefühl der Verantwortung bringt uns alle in den lustvollen und lebensbejahenden Reigen der eigenen Existenz zurück. Mit Verantwortung lässt sich besser leben und leichter erziehen.
Eltern haben keine Schuld, wenn ihren Kindern ein Flügel bricht. Sie haben nur die Verantwortung, den verletzten Flügel wahrzunehmen und ihn, so gut es ihnen möglich ist, wieder zu heilen. Zusammen mit ihrem Kind. Und Eltern ist vieles möglich. Und der Anfang dieser wunderbaren Möglichkeiten ist, an diese Möglichkeiten zu glauben.
Ich möchte hier vielen Eltern danken, auch für ihre Bereitschaft, dass ich auf ihre Geschichten und die ihrer Kinder in diesem Buch zurückgreifen durfte (selbstverständlich anonymisiert). Ich hatte und habe nicht nur begabte Kinder in Therapie, sondern auch begabte Eltern, Männer und Frauen, die zu ihrer Erziehungskompetenz zurückgefunden haben. Und manchmal sogar zu ihrer Liebe füreinander. Manchmal, wenn eine Therapie gut gelaufen ist, befinden sich atmosphärisch gesehen mehr Menschen im Raum als zu Beginn der Therapie: Zur Familie, bestehend aus Mutter, Vater und den Kindern, ist das Paar zurückgekehrt. Wie bei Marvin. Und mit dem Paar hat doch auch diese Familie ihren Anfang genommen.
Das Paar
Es stimmt nicht, dass Therapeuten ihre professionell geschulte Liebesfähigkeit gleich zur Verfügung haben, sozusagen von der ersten Begegnung an. Wenn es - beim Therapeuten - gut läuft, kann er im ersten Kontakt auf seine eigene Offenheit und Unvoreingenommenheit zählen. Die Liebe, eine unverzichtbare Konstante im psychoanalytischen Prozess, kommt oft erst mit der Zeit. Doch dann ist sie ein Fundament, das trägt, auch und gerade, wenn schmerzliche, traurige oder einfach hässliche Beziehungswunden in den therapeutischen Prozess Eingang finden und nicht mehr vereitern müssen, sondern wahrgenommen und behandelt werden dürfen.
Frau M. macht es mir leicht. Eine anmutige Erscheinung, wie sie da vor der Tür steht, ein kleines Lächeln auf den Lippen, ein fester Händedruck. Guter Blickkontakt. Auf Fragen kommen keine vorgefertigten, schnellen Antworten, sondern ein tastendes Suchen nach Erklärungen.
Frau M.: »Ja, also, Sie sind ja Kindertherapeutin...«
Frau S.-K.: »Ja, und Paartherapeutin.« (Manchmal macht man intuitiv Anmerkungen, wie sie sonst nicht geschehen.)
»Genau, das hat mir meine Freundin gesagt... also, jetzt weiß ich gar nicht..., mein Mann wollte auch kommen, ist aber jetzt verhindert.« (Sie verstummt, verliert den Faden.)
»Sind Sie enttäuscht... ich meine, dass Sie alleine kommen mussten?«
»Ja, schon, mein Mann, wissen Sie, er hat wahnsinnig viel um die Ohren... Also ich komm wegen unserer Tochter,
hab Ihnen gesagt am Telefon, dass sie 16 ist, redet kaum noch mit uns. Wenn, dann beschimpft sie uns, jetzt auch meinen Mann, früher nicht. Die hatten eine Superbeziehung... vor einer Woche hab ich es gesehen...«
»Was haben Sie gesehen?«
»Die Narben auf dem Oberschenkel, sie schneidet sich. Ich hätte es nicht gemerkt, wenn nicht die Mutter ihrer besten Freundin es mir gesteckt hätte vor einigen Tagen... Ich verstehe das nicht... Maja war uns immer wichtig, wir haben sie gut erzogen... gut behandelt... Warum macht sie so was?« (Frau M. weint.)
»Weil sie im Moment nur diese Sprache hat. Sie hat andere Ausdrucksweisen gehabt, sie wird auch wieder andere finden. Aber im Augenblick spricht sie diese Sprache.«
»Aber das ist doch keine Sprache, das ist... ist... mein Mann hat, wie er es erfahren hat, zu ihr in der Erregung gesagt: ›Hör sofort auf mit dem Scheiß, du tickst doch nicht mehr richtig...‹ Jetzt macht er sich auch Sorgen.« (Sie weint wieder leise vor sich hin.)
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