Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
Müttern auch schwer macht, ihren Sohn bei den Hausaufgaben zu unterstützen. Oft beschreiben mir Mütter, wie ihre Söhne bei den Hausaufgaben kaum still sitzen können und nur ein flüchtiges Auge auf die Aufgabenstellung werfen. Wenn sie diese lesen sollen, fällt zufällig der Stift runter, kippt plötzlich der Stuhl um. Eine Mutter bringt das gut auf den Punkt: »Mein Sohn benimmt sich wie ein gejagtes Tier... ich versuch Ruhe reinzubringen, er verbreitet in null Komma nix eine Unruhe, die mich sofort auch erfasst, obwohl ich mich mit dem Vorsatz hingesetzt habe, mich dieses Mal nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.«
Häufig finden wir in der Lebensgeschichte solcher Kinder unsichere Bindungsmuster. Der Bindungsforscher Karl Heinz Brisch spricht von einem desorganisierten beziehungsweise desorientierten Bindungsmuster, wie es durch traumabedingte Interaktionen in der frühen Mutter-Kind-Beziehung entstehen kann. Die Mutter kann durch eigene mangelhafte Spiegelungserfahrung in ihrer Kindheit das eigene Kind nur ungenügend spiegeln und in seinen Affekten und Gefühlen »halten«. Sie reagiert auf sein Schreien oder seine Wut mit Distanzierung oder eigener Wut und hinterlässt im Kleinkind ein Gefühl der Leere oder Bedrohung. Solche Beziehungserfahrungen führen das Kind, sobald es laufen kann, zu einem motorischen Abreagieren und zu einer inneren Unruhe. Wenn auch der Vater bei heftigen emotionalen Erfahrungen seines Sohnes nicht haltend reagieren
kann, sondern ebenfalls ausrastet, sich abwendet oder physisch gar nicht vorhanden ist, wird im motorischen Agieren eine erfolgreiche Angstabwehr gefunden und etabliert.
Im ADHS-Syndrom erkennen wir also eine Maskierung von Angst und instabilen Bindungserfahrungen. ADHS ist somit keine unheimliche und nicht benennbare hirnorganische Störung, die einige Kinder befällt und andere nicht, sondern ein erfolgreich etablierter Schutzschild vor Zuständen innerer Leere und Selbstbedrohung. ADHS-Kinder laufen vor einem Ort weg, an dem sie noch nicht so richtig angekommen sind: einem geschützten, geborgenen Selbst. Wenn wir uns die Familiendynamik genauer anschauen, entdecken wir oft bei einem der Elternteile oder auch beiden dieselben Abwehrschilde. Da es sich bei ihnen aber um Erwachsene handelt, die sich weitaus besser selbst organisieren können, fällt uns da oft nur eine große Aktivität und Betriebsamkeit auf, die allerdings auch Zustände von Erschöpfung oder Somatisierung kennt.
Auch bei dieser Diagnose geht es nicht um eine Demaskierung elterlicher Unfähigkeit, sondern um ein Verstehen zwischenmenschlicher Wechselwirkungen, die - das ist die große Chance einer psychoanalytischen Spieltherapie - nachhaltig korrigierbar sind. Allerdings braucht es von elterlicher Seite her die Bereitschaft und das Vertrauen, an alternativen Beziehungsmustern arbeiten zu können und keine schnelle Lösung herbeizaubern zu wollen.
Sebastian oder: Die Maske des »todesmutigen« Kerls
Der achtjährige Sebastian kommt auf Wunsch seiner Lehrerin in meine Praxis. Diese hat den erschütterten Eltern eine Schule für verhaltensgestörte Kinder vorgeschlagen oder eine Ritalinbehandlung verlangt. Die Eltern lehnen beides ab und
dringen bei mir darauf, »dass es aber schnell gehen muss, die Lehrerin hat gesagt, sie sei am Ende mit ihrer Geduld«. Und, wie die Eltern zögernd zugeben, sie ebenfalls. Nach einem umfassenden Schuleignungstest, den die Eltern auf Anraten der Kindergärtnerin haben durchführen lassen, weil Sebastian schon im Kindergarten durch Störaktionen, schnelle Kränkbarkeit und wenig soziales Verhalten aufgefallen ist, bescheinigen die Testergebnisse eine gute Intelligenz, doch schwache soziale Kompetenz. In der Schule verstärken sich Sebastians soziale Auffälligkeiten: Er kann nicht still sitzen, ist schnell bei jeder Rauferei dabei oder - so die Sicht der Lehrerin - löst sie aus, steht auf, wenn er sich langweilt, spielt den Klassenclown, vergisst die Schulhefte zu Hause, macht die falschen Hausaufgaben usw.
In der ersten Therapiestunde zeigt er mir gleich, was er »so drauf hat«. Nach zehnminütigem Stillehalten (was ihm ein Kompliment des Vaters einträgt: »Du bist ja mustergültig heute!«) entdeckt er das offene Fenster und klettert auf das Sims mit den Worten: »Ich bin nämlich todesmutig... ich kann hier rausspringen.« - »Ohne Zweifel, wenn ich dich lassen würde, tue ich aber nicht.« Ich hebe ihn unter lautem Protest seinerseits runter und schließe
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