Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
viel weniger behandlungsbedürftig eingeordnet zu werden als die Lese-Rechtschreib-Schwäche. Schlechte Noten in Mathematik werden in der sozialen Bewertung anders interpretiert als eine offenkundige Lese-Rechtschreib-Schwäche. Die Haltung eines Vaters kann hier für viele stehen: »In Mathe ist meine Tochter halt die gleiche Niete, wie ich es war. Solange sie in anderen Fächern gut ist …« Hinzu kommt, dass Rechenstörungen viel weniger untersucht worden sind bezüglich Entstehung und Auswirkungen als Lese- und Rechtschreib-Störungen, weil sie offensichtlich im sozialen Kontext weniger greifbare und direkte Auswirkungen haben.
Wie weiter oben schon erwähnt, lässt sich die Vorstellung, dass es sich bei der Lese-Rechtschreib-Schwäche um eine Teilleistungsstörung auditativer und visueller Art als Folge einer minimalen zerebralen Dysfunktion handelt, aufgrund neurophysiologischer Erkenntnisse kaum mehr halten. Trotzdem wird Legasthenikern nach wie vor in psychologischen Testverfahren bescheinigt, an einem defizitären Persönlichkeitsmerkmal zu leiden. Immer wieder kommen
Eltern in die Praxis mit der fertigen Diagnose: »Unser Kind hat Legasthenie, die Tests haben es eindeutig bestätigt«. So auch die Eltern von Alex, den ich weiter unten näher vorstellen möchte. Ein Junge übrigens, der bei diesen Testverfahren, die er jedes Jahr über sich ergehen lassen musste, nach eigenen Worten »nie ganz da war«. Er hatte bei diesen Tests »einfach Angst, genauso wie in der Schule bei schriftlichen Arbeiten«. Der Zusammenhang zwischen der emotionalen Befindlichkeit und der Lernfähigkeit wird gerade in Testsituationen leider immer wieder übersehen, so wie überhaupt zu wenig wahrgenommen wird, dass das Gehirn enorme plastische Fähigkeiten birgt, mit denen es auf neue emotionale Erfahrungen neu reagieren kann.
Es ist bei fast allen Legasthenikern zu vermuten, dass Verhaltensauffälligkeiten bereits vor der Einschulung existiert haben, doch von den Eltern oder Betreuungspersonen im Kindergarten als nicht relevant eingeschätzt worden sind. Meistens wird den Eltern dann nach einer diagnostisch bestätigten Legasthenie Logopädie empfohlen. Die Kinder erfahren mit diesem übenden Verfahren Zuwendung und Hilfestellung. Trotzdem können solche Verfahren nur selten die Legasthenie beheben, weil sie Ausdruck einer Individuationsstörung ist und ihr auslösendes Moment lange zurückliegt. Dieses hat zum einen zu tun mit einer sehr komplexen, nicht gelungenen Ablösung von den nächsten Bezugspersonen und zum anderen damit, dass die Sprache als Instrument zur Darstellung subjektiver und objektiver Bedürfnisse nicht lustvoll und mit Freude entdeckt werden konnte.
Bevor ich Alex näher vorstelle, möchte ich ihn und noch zwei andere Kinder kurz zu Wort kommen lassen, die in der Therapie viel Hilfreiches gezeigt und gesagt haben.
Marielle, ein Mädchen, das sich lange Zeit geweigert hatte, mit anderen Erwachsenen außer den Eltern und den Lehrern zu sprechen, meinte gegen Ende der Therapie zu mir:
»Es ist doch gut, dass ich spreche. Jetzt kann ich selber sagen, was ich will. Vorher hast du es immer erraten müssen, und wenn du es nicht richtig erraten hast, konnte ich ja nichts tun und nur warten.« Alex, ein diagnostizierter Legastheniker, der sich bis in die 3. Klasse geweigert hatte, lesen zu lernen, sagte: »Was da in den Lesebüchern drinsteht, find ich langweilig, da steht ja nichts über mich drin...« (!) Und Luc, ein elfjähriger Junge mit großen Rechtschreibproblemen: »Ich mag halt, wenn man sich direkt mit mir beschäftigt. Dann hab ich keine Zeit, ja also irgendwie Angst, so viele Gedanken zu bekommen... Wenn ich schreibe, kann ich ja nicht mit einem anderen reden, beim Schreiben bin ich allein. Es ist dann auch so still im Klassenzimmer und zu Hause bei den Hausaufgaben.«
Alex - ein kluger Regelbrecher
Alex’ Eltern entschlossen sich, ihren achtjährigen Sohn in Therapie zu geben, nachdem sie mit ihm zu Hause einen aufs Heftigste ausgetragenen mehrjährigen verzweifelten Kampf ums Lesenlernen geführt hatten. Nachdem er die 2. Klasse wiederholen musste, weil er immer noch »eine verdammte Ewigkeit« brauchte (so sein Vater), um wenige Zeilen zu entziffern, und seine Mutter trotz Legasthenie-Nachweis und Förderunterricht keine Aussicht auf Besserung sah und nicht mehr wusste, »ob ich heulen oder ihn anschreien soll«, entschlossen sich die Eltern, auch auf Drängen der aufmerksamen neuen
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