Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
können und müssen nicht alles richtig machen. Zur jahrelangen Erziehungsarbeit gehören auch Kinder, die phasenweise unzufrieden sind mit sich und den anderen, die Durchhänger haben, die einmal (!) das Klauen ausprobieren, die in der Grundschule oder davor andere Kinder mal verprügeln oder verprügelt werden, die auch nach dem vollendeten vierten Lebensjahr noch ab und zu ins Bett machen, die in einer familiären Stressphase mal einen Tick entwickeln, der mit Beendigung der familiären Anspannung wieder abklingt, die mal traurig und antriebslos wirken und »null Bock« haben, die mitunter hektisch und nervös agieren, deren Schulleistungen nicht immer ausgeglichen sind. Eltern müssen nicht immer auf der Höhe ihrer selbst gesetzten Erziehungsvorstellungen sein und dürfen sich als Erziehungsperson auch mal unzulänglich, entnervt und lustlos fühlen. Das sind alles noch keine Gründe, Kinder oder Jugendliche gleich in Therapie zu schicken. Viele dieser oben genannten Erscheinungsformen und Symptome heilt die Zeit.
Eine meiner Supervisorinnen in der Ausbildung zur psychoanalytischen Kinder- und Jugendlichentherapeutin hat mir vor vielen Jahren gesagt: »Entsetzlich, wenn Kinder keine Symptome haben dürfen und nur funktionieren müssen...« Eine Aussage, die mich später immer wieder einmal dazu geführt hat, ein Kind nicht in Therapie zu nehmen, dessen
Schulleistungen einer momentanen Schwankung unterworfen waren, weil die Familie gerade in einem Veränderungsprozess war, der ihr viel abverlangte, doch zu dessen Bewältigung die nötigen Ressourcen vorhanden zu sein schienen.
Nur wenn sich keine befruchtende Flut mehr einstellen will, die Familie oder das Kind emotional auszutrocknen droht oder, der umgekehrte Fall, wenn die Familie nur noch von ihren eigenen, nicht mehr kontrollierbaren oder destruktiven Gefühlen füreinander überflutet zu werden droht, dann muss gehandelt und eine Therapie in Angriff genommen werden. Wenn das Einnässen auch in der Grundschule nicht aufhört, ein Kind häufig gemobbt wird oder es andere verprügeln muss bei jeder erlittenen Kränkung, wenn das Kind regelmäßig einkotet oder den Unterricht mit seinen unkontrollierbaren Affekten lahmlegt, wenn Jugendliche nur noch herumhängen, jede Leistung verweigern und keine Freude und Begeisterung mehr aufbringen, sich mit nichts Positivem mehr identifizieren können, nur noch in ihrer Peergruppe abhängen, sich selber verletzen oder durch massive Ängste oder Zwänge in der Alltagsbewältigung behindert sind, dann erscheint eine Therapie notwendig.
Ich möchte auf den folgenden Seiten die Symptome darstellen, die Kinder und Jugendliche am häufigsten in meine Praxis führen. Die getroffene Auswahl an Symptomen spiegelt meinen Praxisalltag wider, doch sind es weitgehend auch die Symptome, mit denen die meisten psychoanalytischen Kinder- und Jugendlichentherapeuten aktuell zu tun haben, wobei jeder Therapeut aufgrund seiner eigenen Persönlichkeitsstruktur gewisse Präferenzen haben kann in der Auswahl seiner Patienten.
Die mit Fallbeispielen verbundenen Darlegungen sollen auch eine Hilfe für Eltern sein, um die ganz spezifische emotionale Verletzbarkeit ihres Kindes besser wahrnehmen
und ihr konstruktiv entgegenwirken zu können, sodass sich der Gang zum Therapeuten vielleicht erübrigt. Denn, wie an anderer Stelle erwähnt: Eltern sind zu vielem in der Lage, auch dazu, ein günstigeres Erziehungsverhalten auf den Weg zu bringen. Manchmal genügt ein Anstoß und etwas gelassene und leise Nachdenklichkeit, um die eigenen Kinder besser wahrnehmen zu können.
ADHS
Das Krankheitsbild ADHS ist jedem psychoanalytischen Kinder- und Jugendlichentherapeuten aktuell so vertraut wie kaum eine andere Diagnose. Bereits beim telefonischen Erstkontakt benennen die Eltern das Leiden: »Unser Kind hat ADHS, hat der Lehrer gesagt, und wir sollen es mal mit einer Spieltherapie versuchen...« ADHS, also die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, früher auch in ADS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung) und HKS (Hyperkinetische Störung) unterschieden, ist die Modediagnose schlechthin. Lange herrschte die Meinung vor, dass hyperaktive Kinder an einer genetisch bedingten Hirnschädigung leiden, die einen Dopaminmangel verursacht. Um diesen Dopaminmangel beheben zu können, schien eine medikamentöse Behandlung und eine strukturierende Behandlung des unruhigen und unaufmerksamen Kindes auf verhaltenstherapeutischer Ebene angezeigt zu sein.
Weitere Kostenlose Bücher