Damit Kindern kein Flügel bricht - Kindliche Verhaltensauffälligkeiten verstehen und ein gutes Familienklima fördern
verdeutlichen. Ein 14-jähriges Mädchen wollte unbedingt Fußball spielen. »So richtig im Verein«, wünschte sich Sophia. Doch die Eltern und der Bruder, der selber nicht Fußball spielte, fanden das eine »absurde Idee«. Die Mutter sah die Zartheit der Tochter als Hinderungsgrund, der Vater, auch er nie Fußballer, den hohen Verletzungsgrad, der Bruder fand die Idee »ziemlich gestört für ein Mädchen«. Das Familiencredo bezüglich Freizeitaktivitäten sah anders aus. Alles, was mit Feingeistigem und vielleicht noch künstlerischer Aktivität verknüpft werden konnte, war erlaubt und wurde bei jedem in der Familie gefördert. Alle vier widmeten viel Zeit »guten Büchern«, alle vier gingen in Ausstellungen, wozu allerdings, so mein Eindruck nach gewisser Zeit, keiner richtig Lust hatte, doch das Bild einer kultivierten Familie verlangte es halt. Es war eine Familie, in der man alle so ein bisschen zu kennen schien, wenn man einen von ihnen kannte. Eine symbiotische Familie, wenn es denn ein Fachwort sein soll.
Als Sophia dann doch ihren Willen durchsetzte und mit Fußballspielen im Verein anfangen durfte, passierte in der Familie etwas Spannendes: Plötzlich entdeckten auch die anderen Familienmitglieder, dass sie einander gar nicht so ähnlich sind. Nach zwei Jahren machte jeder in der Familie etwas Neues. Der Vater begann mit viel Spaß zu klettern, die Mutter gründete eine von ihr und anderen Müttern betreute Hausaufgabengruppe für Grundschüler, deren Eltern beide berufstätig waren, und der Bruder legte seine Geige beiseite und gründete eine Rockband, in welcher er der Sänger war. Und das alles, obwohl die Mutter Rockmusik verabscheut und der Vater noch kein einziges Fußballspiel seiner Tochter gesehen hat. (»Das ist einfach nicht mein Ding, Fußballplatz und so.«) Sophia hat das
auch akzeptiert. Jeder wurde auf dem neuen Weg vom anderen anerkannt und in Ruhe gelassen. Wo früher eine erzwungene Maxime geherrscht hatte im Stil von »Wir sind eine Familie mit gleichen Interessen« herrschte danach die Erkenntnis vor: »Wir sind verschieden - und das ist viel spannender.«
Die passiven Glückserwartungen an die anderen Familienmitglieder sind durch die neu erwachte Freude an der eigenen Aktivität als einem Ort familiärer Unabhängigkeit, wenn es um eigene Zufriedenheit geht, in dieser Familie abrupt zurückgegangen. Der Vater meinte im Abschlussgespräch: »Gott sei Dank war unsere Tochter so hartnäckig mit ihrem Fußball. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte das Klettern nie entdeckt … Wir mussten uns ja was einfallen lassen, nachdem Sophia ihre Wochenenden nur noch auf dem Fußballfeld verbringt. Ohne Klettern würde mir was fehlen.« Und die Mutter fügte hinzu: »Früher ist wenig geredet worden, worüber denn... Jetzt erzählt halt jeder, was er so macht, wenn die anderen nicht dabei sind. Und das Klettern tut meinem Mann gut. Er hat einen viel sportlicheren Körper - gell, da staunst du, dass ich das sehe?«
Drei Monate nach Therapieende kommt von Frau H. noch eine Karte: »War mit meinem Mann auf einer Klettertour. Er hat extra eine leichte ausgesucht. Es war gut, viel Natur. Angefressen werde ich nicht. Ich bleibe bei mir.«
Eine Familie ist kein homogener, sondern ein heterogener Körper. Wenn jeder in dieser Gemeinschaft neben den gemeinsamen Interessen auch seine eigenen verfolgen und ausleben kann, wird so eine Familie eine lebendige Gemeinschaft, in welcher viel Austausch und die anderen Familienmitglieder bereichernde Individualität möglich werden.
Wenn es um Individualität geht, sind die Eltern Vorreiter. Dass die Hartnäckigkeit einer Jugendlichen wie Sophia allen in der Familie Veränderungen ermöglicht, ist eher die Ausnahme.
Kinder haben viel visionäre Kraft, Größenfantasien sind da noch etwas ganz Natürliches. Ein Kind ist nicht größenwahnsinnig, wenn es »so eine wie Merkel« werden will. Es zeigt nur, dass es mit sich rechnet. Dass es mit dem Leben als einem Ereignis rechnet. Oder, nochmals anders gesagt: dass sich in seinem Leben einiges ereignen wird. Ein Schuss Größenwahn ist bei Kindern etwas Wunderbares und darf nicht vorschnell eingeebnet werden. Ein Achtjähriger erklärte seinen Eltern, dass »ich mal ganz berühmt werde, ein Rennfahrer wie Schumi«. Statt dass die Eltern darauf mit entspanntem Humor reagierten, im Sinne von: »Ja, klar, tolle Idee, warum denn nicht?«, wurde er gehänselt und damit geärgert. Und zwar meistens, wenn er mit
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