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Danach

Danach

Titel: Danach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koethi Zan
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den Inhalt der obersten Schublade. »Vielleicht einen Schlüssel oder so was.«
    Sie machte inzwischen einen konfusen, panischen Eindruck und hatte sichtlich Mühe, ihre sonst so unerschütterliche Selbstbeherrschung aufrechtzuerhalten. Ihre Bewegungen wurden fahrig, und sie schob hektisch Stifte und Klebezettel beiseite, um mit der Hand in die Tiefen der Schublade abzutauchen.
    »Wonach suchen Sie wirklich , Adele?«, fragte Tracy mit schriller Stimme. Ließ sie sich etwa auch von ihrer Panik überwältigen? »Nach Forschungsunterlagen? Nach dem entscheidenden Anschub für Ihre Karriere? Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist: Wenn man tot in einem Haus in den Bergen liegt, kann man keine Karriere mehr machen. Aber warten Sie: Sie könnten natürlich auch jetzt gleich etwas zu Papier bringen, damit es posthum veröffentlicht wird.« Tracy hielt eine Sekunde inne. »Schneller kann man vermutlich gar nicht zu Ruhm und Reichtum kommen als mit einem Buch, das man verfasst hat, während man im Haus eines Psychopathen festsaß.«
    Sie drehte sich zu mir um. »Sarah, warum schreibst du nicht auch gleich ein Buch und lässt die Menschheit wissen, wie du uns damals versehentlich gerettet hast, nur um uns jetzt wieder hierherzulocken?«
    Adele unterbrach ihre Suchaktion und sah sie überrascht an.
    »Soweit ich unterrichtet bin, wären Sie heute noch Jacks Gefangene, wenn Sarah nicht gewesen wäre. Dann säße er jetzt an meiner Stelle hier am Schreibtisch.« Der Gedanke schien sie zu beunruhigen, denn sie stand hastig auf und machte ein paar Schritte vom Tisch weg.
    Ich glaubte, einen Funken Gefühl in ihren Augen zu erkennen. Versuchte sie etwa, mir zu helfen?
    »Wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist, Adele«, gab Tracy zurück, »sitze ich trotzdem hier fest, und auch dazu wäre es ohne Sarah nicht gekommen. Was bringen mir die zehn Jahre dazwischen, wenn alles darauf hindeutet, dass ich doch noch in diesem Haus sterbe?«
    Ich spürte, wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich. Offenbar hatte ich mich getäuscht, wenn ich geglaubt hatte, unsere gemeinsame Reise trage dazu bei, alte Wunden verheilen zu lassen. Tracy war keineswegs kurz davor, mir zu verzeihen, sondern zeigte hier, in dieser Stresssituation, ihre wahren Gefühle.
    Sie glaubte bis heute, dass ich nach meiner Flucht keine Hilfe zum Haus geschickt hatte. Der Presse hatte sie damals erzählt, sie sei sicher, dass ich sie und Christine für immer in Jacks Haus hätte schmoren lassen, wenn die Polizei mich nicht befragt und es auf diese Weise herausgefunden hätte. Weil ich in den Tagen vor der Flucht oben bei Jack gewesen war, glaubte sie, es wären volle sechs Tage vergangen, bis endlich Rettung kam. Sechs Tage, in denen Jack sie und Christine problemlos hätte töten und irgendwo verscharren können.
    Aber sie irrte sich. Ich hatte Hilfe geschickt.
    Ich hätte ihr einfach erklären können, was damals passiert war. Aber ich hatte mich nie dazu überwinden können, über die genauen Umstände meiner Flucht zu sprechen, und daher nicht einmal den Versuch unternommen, mich gegen ihre Anschuldigungen zu verteidigen. Weder meine Mutter noch Jim oder Dr. Simmons kannten die Einzelheiten. Jedes Mal, wenn sie versucht hatten, sie mir zu entlocken, war ich in eine Art Schockstarre verfallen.
    Auch jetzt stieg Panik in mir auf, aber ich wusste, dass ich in Tracys Ansehen noch mehr sank, wenn ich Schwäche zeigte. Sarah, das arme Opfer, das immer noch unter ihrer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, dachte sie bestimmt. Tracy selbst hatte sich ihrer Vergangenheit mutig gestellt und sogar die Motivation für ihre feministische Zeitschrift daraus gezogen. Sie hatte ihr Trauma in einen Erfolg verwandelt – genau wie es die moderne Leistungsgesellschaft von einem verlangte. Sie hatte weder Zeit noch Mitgefühl für jene übrig, die es nicht schafften, Kraft aus ihrer traumatischen Vergangenheit zu ziehen.
    Wenn ich die Sache richtigstellen wollte, war jetzt der geeignete Moment dafür. Falls die Zeit überhaupt noch reichte. Vielleicht standen längst Noahs und Jacks Männer vor der Tür und beobachteten uns. Aber wenn es eins gab, was ich Tracy verständlich machen wollte, dann meine Rolle bei der Rettung vor zehn Jahren.
    Ich ging zum Sekretär. Wie oft hatte ich Jack dort sitzen und in seine Notizbücher kritzeln sehen, wenn ich erschöpft vor Schmerz auf der Folterbank lag. Auf gewisse, absurde Weise war dieser Schreibtisch ein Friedenssymbol für mich. Ich

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