Danach
… Meine stellvertretende Chefredakteurin kriegt die neue Ausgabe nie rechtzeitig fertig.« Sie stand langsam auf und fing an, ihre Sachen zusammenzusuchen, wobei sie sich erneut in der Wohnung umsah. »Eigentlich ist dieses ganze Weiß ziemlich erdrückend.«
»Warte. Warte!« Fast wären meine normalen menschlichen Instinkte zurückgekehrt. Ich hatte sogar schon die Hand nach ihr ausgestreckt, schrak dann aber vor der Vorstellung zurück, menschliches Fleisch zu berühren, und zog die Hand so hastig zurück, als hätte ich mich verbrannt. Ich wollte zwar, dass sie blieb, konnte aber nicht über meinen Schatten springen.
»Warte mal«, sagte ich. »Deine Zeitschrift, deine Arbeit als Journalistin. Er schreibt, wir sollen ›die Lehren studieren‹. Meint er damit vielleicht deine Artikel? Oder meint er die Bibel?«
Tracy lenkte nicht ein und nahm auch nicht wieder Platz, aber sie stützte ein Knie auf dem Stuhl ab und hielt mit dem Notizblock in der Hand inne. Ich wartete und machte mich innerlich darauf gefasst, dass sie meine Fragen ignorierte und zur Tür hinausstürmte.
»Nein, meine Zeitschrift kann er nicht meinen«, murmelte sie nachdenklich. »Alles andere, worauf er anspielt, hat in der Vergangenheit stattgefunden, bevor … na ja, du weißt schon. Ich glaube auch nicht, dass er die Bibel meint, seine religiöse Bekehrung ist eine ziemlich durchschaubare Schmierenkomödie. Er will uns irgendetwas anderes mitteilen. Was ist mit seinen eigenen ›Lehren‹? Er war schließlich Professor. Was, wenn er über seine eigene wissenschaftliche Arbeit spricht? Irgendetwas, was mit seinen Seminaren, mit der Uni zu tun hat?«
Jetzt setzte sich Tracy doch wieder hin und grübelte weiter über diesen Gedanken nach. »Das ist gar nicht so abwegig. Und zwar unabhängig von den Briefen«, betonte sie. »Mich würde interessieren, ob dem schon mal jemand nachgegangen ist. Wenn man – wie ich – davon ausgeht, dass er seine psychologischen Thesen an uns getestet hat, ergibt das absolut Sinn. In seiner mittelalterlichen Auffassung von Wissenschaft waren wir nichts als Versuchskaninchen.«
Ich fasste wieder Mut. Vielleicht gab uns dieser neue Ansatz endlich etwas Konkretes zu tun. Meine aufflackernde Hoffnung machte mir klar, dass es kein Zurück mehr für mich gab. Ich würde erst zur Ruhe kommen, wenn ich diesen Weg bis zum Ende gegangen war. Mir blieb gar keine andere Wahl.
Tracys Gedankengang aufgreifend sagte ich: »Wenn wir zur Uni zurückgehen, brauchen wir Christine. Schließlich hat sie bei ihm studiert, an der psychologischen Fakultät. Sie kann uns helfen, uns dort zurechtzufinden.«
Tracy lachte laut auf. »Träum weiter! Christine will nichts mit uns zu tun haben. Und mit nichts meine ich: nichts. Das hat sie schon vor Jahren unmissverständlich klargemacht. Ich wüsste nicht einmal, ob wir sie finden würden.«
»Doch, würden wir.« Mir fiel McCordys indiskrete Äußerung ein.
»Und wie?«
»Ich weiß, auf welche Schule eines ihrer Kinder geht.«
Interessiert hob Tracy den Kopf. Ich konnte förmlich sehen, wie es in ihrem Gehirn ratterte.
»Es ist Donnerstag.« Ich warf einen Blick auf die Uhr. »In einer Stunde ist Schulschluss.«
»Okay, dann warten wir vor der Schule auf sie.«
11
Es war ironisch, dass Christine wieder in der Upper East Side zu finden war, genau da, wo sie aufgewachsen war. Nach allem, was sie uns im Kellerverlies erzählt hatte, konnte ich nicht verstehen, warum sie dorthin zurückgekehrt war, wo sie doch nach unserer Befreiung die Gelegenheit gehabt hätte, ganz neu anzufangen. Vielleicht hatte sie nach allem, was wir durchgemacht hatten, das Bedürfnis nach einer vertrauten Umgebung gehabt. Sie wollte ihr Leben nicht noch einmal auf den Kopf stellen. Das hatte sie schon einmal getan, und es hatte sie fast ins Grab gebracht.
Christine war das einzige Kind eines wohlhabenden Investmentbankers aus Manhattan und seiner Gattin, einer bekannten Größe auf dem gesellschaftlichen Parkett. Sie wuchs in einem exklusiven Neunparteienhaus an der Park Avenue auf, im feinsten Carnegie Hill. Die äußerst großzügige Altbauwohnung wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Christines Familie verbrachte die Sommerurlaube in den Hamptons und fuhr im Winter nach Aspen zum Skilaufen. Es war ein privilegiertes Leben, und Christine, die ein folgsames, verträumtes Kind war, verbrachte ihre Kindheit und frühe Jugend in aller Zufriedenheit, ohne der Welt, die sich außerhalb ihrer
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