Danach
Beginn jeder Seminarstunde ging er vor den Studenten auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, fuhr sich ab und an mit der einen Hand durch das dichte schwarze Haar und ordnete schweigend seine Gedanken. Der Raum war jedes Mal so voll, dass Gasthörer im Schneidersitz in den Mittelgängen saßen und Kollegen aus anderen Fachbereichen hinten an der Wand lehnten. Mehrere Mikrokassettenrekorder wurden in der Nähe des Rednerpults aufgestellt. In jeder anderen Vorlesung hätten die Studenten diese Zeit dazu genutzt, sich zu unterhalten und mit Unterlagen herumzurascheln, aber bei Professor Jack Derber wahrten sie respektvolle Stille und warteten darauf, dass seine weichen, vollen Lippen sich bewegten, dass seine machtvolle Stimme erklang. Wenn er dann endlich zu sprechen begann, sein Gesicht den Zuhörern zuwandte und seine durchdringenden, kristallklaren blauen Augen durch die Reihen wandern ließ, waren seine Worte geschliffen, prägnant, brillant. Seine Jünger schrieben eifrig mit und ließen sich kein einziges Wort entgehen.
Christine im Besonderen war fasziniert von ihm, blieb nach der Stunde im Seminarraum, um Fragen zu stellen, nahm an Sonderprojekten teil, ging in seine Sprechstunde. Wenn für den Kurs Referate zu schreiben waren, schlug sie sich die Nächte um die Ohren und bemühte sich, ihre Gedanken möglichst lebendig zu Papier zu bringen, um der überwältigenden Eloquenz seiner Vorlesungen gerecht zu werden.
Auch ihm war Christine sofort aufgefallen. Sie saß in der ersten Reihe, und obwohl sie hart daran arbeitete, dass man ihr die luxuriöse Kinderstube nicht ansah, muss sie irgendetwas ausgestrahlt haben, was sie hervorstechen ließ, ein besonderes Auftreten, das ihren vornehmen Stammbaum verriet, eine Zartheit der Gefühle, bedingt durch ihr überbehütetes Aufwachsen. Und genau das wollte er zerstören.
Jack besaß tatsächlich einen feinen Instinkt und musste gemerkt haben, dass sie ein wenig zu sehr bemüht war, dass sie in seiner Gegenwart nervös wurde, dass sie verletzlich war. Vielleicht hatte er erkannt, dass sie anders war als die anderen Studenten und verzweifelt nach einem Platz im Leben suchte, der sich möglichst krass von dem Ort unterschied, an dem sie aufgewachsen war. Er wusste da genau das Richtige für sie …
Noch vor Ablauf des Semesters bot er ihr daher eine heiß begehrte Position an: die seiner wissenschaftlichen Hilfskraft. Christine freute sich riesig. Sie würde nicht nur für einen der meistbewunderten Professoren der ganzen Uni arbeiten, sondern musste dank des damit einhergehenden Gehalts auch nicht mehr auf ihren Treuhandfonds zurückgreifen. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie finanziell unabhängig sein, ein riesiger Schritt für sie. Und so löste sie feierlich ihren ersten Scheck ein, stolz darauf, es ganz allein so weit geschafft zu haben. Sie konnte es kaum glauben.
Es dauerte allerdings nicht lange, bis Jack beschloss, dass Christines Zeit gekommen war.
Sie hatte uns nie erzählt, wie sie von Jacks wissenschaftlicher Hilfskraft zu seiner Gefangenen geworden war, dafür saß das Trauma zu tief. Aber noch vor Ende ihres ersten halben Jahres in Jacks Diensten saß sie in seinem Keller. Offen blieb, ob sie die Erste war – ob er monatelang auf das richtige Opfer gewartet hatte, bis ihm Christine über den Weg lief –, oder ob er schlicht und ergreifend Nachschub besorgt hatte.
So oder so, sie endete in Ketten in jenem Kellerverlies, wo sie die ersten hundertsiebenunddreißig Tage allein im Dunkeln verbrachte und sich sicher mehr als einmal wünschte, sie wäre doch nach Yale gegangen.
Genau das war von Anfang an Jacks perfider Plan gewesen: ihr dabei zuzusehen, wie sie sich selbst mit dem Gedanken quälte, auf ganzer Linie versagt zu haben. Sie hatte es doch nicht geschafft, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Es war ihr nicht gelungen, es außerhalb des schützenden Kokons der Superreichen zu etwas zu bringen. Sie war als schwach und wehrlos enttarnt worden, kaum dass sie die exklusive Welt der Upper East Side verlassen hatte. Und bezahlte einen entsetzlich hohen Preis dafür.
Und so verbrachte sie die nächsten fünf Jahre dort unten im Keller, wo sie nachdachte, in Erinnerungen schwelgte und bereute.
Tracy und ich wurden Zeuginnen, wie sie allmählich wahnsinnig wurde, wie die Dunkelheit Stück für Stück Besitz von ihr ergriff. Selbst wenn wir es versucht hätten, wir hätten es nicht geschafft, diesen Prozess aufzuhalten. Während
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