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Danach

Danach

Titel: Danach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koethi Zan
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ihrer dunklen Vergangenheit eingeholt worden.

13
    Als ich nach einem Jahr und achtzehn Tagen in Gefangenschaft zum ersten Mal nach oben durfte, war das fast so etwas wie ein magischer Moment. In mir war damals längst die Überzeugung gereift, dass ich im Keller sterben würde, ohne je wieder die Sonne zu sehen, von jenem mickrigen Lichtstrahl einmal abgesehen, der durch das zugenagelte Fenster hereinsickerte. Der Grund für die plötzliche Ehre war mir beinahe egal, während ich an der Kette die Kellertreppe hinaufgeführt wurde und in Gedanken die Stufen mitzählte.
    Ich weiß noch, wie überrascht ich war, als ich den Wohnbereich des Hauses sah. Aus irgendeinem Grund hatte ich mir ein abgewetztes Siebzigerjahre-Interieur vorgestellt, aber in Wirklichkeit war alles klassisch und elegant. Schwere Biedermeiermöbel, viel dunkles Holz und hohe kirchenähnliche Decken mit Holzbalken. Durch und durch großbürgerlich. Formschön. Geschmackvoll.
    Die Räume strahlten etwas Ätherisches aus, und durch ein Fenster wehte eine zarte Brise herein. Es hatte gerade aufgehört zu regnen, und die Blätter tropften noch vor Nässe. Ich hatte Hunger gelitten, war nächtelang mit Elektroschocks gefoltert und stundenlang in obszönen Positionen gefesselt worden, bis meine Muskeln schmerzten und brannten, aber all das vergaß ich beinahe, so herrlich war es, wieder Luft auf der Haut zu spüren. Voller Dankbarkeit blickte ich zu Jack Derber auf. Das ist es, was die Gefangenschaft mit einem macht.
    Er sprach nicht mit mir, sondern zog mich einen Flur entlang, von dem verschiedene Türen abgingen. Aus Angst, dass er mich für widerspenstig hielt, drehte ich nur ganz leicht den Kopf und spähte flüchtig in die Küche, die im hinteren Teil des Hauses lag: ein makellos sauberer, beinahe fröhlich wirkender Raum, in dem ein geblümtes Geschirrtuch zum Trocknen über den Rand des Spülbeckens gebreitet war.
    Irgendwie schockierte mich dieses Geschirrtuch, dieses niedliche kleine Tuch, das er benutzt haben musste, um sorgfältig und – wie ich wusste – akribisch das Geschirr abzutrocknen. Er … dieselbe Person, die mir so viele Schmerzen zugefügt hatte, die mein Leben aus den Angeln gerissen und mich in diese Hölle gebracht hatte, trocknete wie jeder andere Mensch allabendlich sein Geschirr ab und verstaute es im Schrank. Es kam mir immer mehr so vor, als würde er sein Leben nach einer geordneten, festgelegten Routine ausrichten und als sei auch unsere Bestrafung Teil dieser Routine. Für ihn waren wir nur ein ganz normaler Punkt auf seiner ganz normalen Tagesordnung, bevor er nach dem Wochenende wieder auf den betriebsamen Uni-Campus zurückkehrte und seiner Arbeit nachging, als wäre nichts geschehen.
    Er führte mich in die Bibliothek, ein riesiges Zimmer mit hohen Decken und teuer wirkenden Bücherregalen aus Eichenholz, die randvoll mit Büchern waren. Jedes Buch steckte in einem hellgrauen Schutzumschlag, so dass nicht auf den ersten Blick erkennbar war, um was es sich dabei handelte. Die Schutzumschläge waren beschriftet, aber obwohl ich in den nächsten Monaten viel Zeit in der Bibliothek verbrachte und immer wieder auf die Buchrücken starrte, um mich von den Schmerzen abzulenken, konnte ich die Titel nicht entziffern. Die Beschriftung war zwar auf Englisch, aber ich schien die Fähigkeit verloren zu haben, in meiner Muttersprache zu lesen.
    In der Mitte des Zimmers stand eine große Bank, die – wie ich später erfuhr – die Nachbildung einer echten mittelalterlichen Folterbank war. Sie stand dort, als wäre sie ein Dekorationsobjekt, ein Ziergegenstand, ein Witz. Aber sie war kein Witz. Er benutzte sie. Wenn wir oben bei ihm waren, kamen wir auf die Folterbank.
    An guten Tagen machte er einfach mit unseren Körpern, was er wollte. Dann konnten wir uns wenigstens auf die Lippen beißen oder schreien oder sonst etwas tun, was uns half, den Schmerz und die Demütigung zu ertragen.
    An schlechten Tagen redete er auch mit uns.
    Irgendetwas an seiner Stimme, an der Art, wie er Tonstärke und Klangfarbe modulierte, gab einem im ersten Moment das Gefühl, dass er einen voller Anteilnahme und Herzlichkeit betrachtete. Dass er es hasste, uns all diese widerwärtigen Dinge antun zu müssen, aber dass er nun einmal keine andere Wahl habe. Dass er es der Wissenschaft und seinen Studien zuliebe tun müsse. Manchmal auch uns zuliebe, um uns Dinge begreiflich zu machen, die über die physische Welt hinausgingen.
    Vermutlich war ich

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