Danach
mit erhobener Hand. »Ich will es nicht hören. Das ist mir egal. Absolut egal. Ich habe bereits zu McCordy gesagt, dass das ganz allein sein Problem ist. Soll die Anklagevertretung doch einfach ihre Arbeit machen. Wenn diese Leute zu dumm sind, einen gemeingefährlichen Geistesgestörten in eine Zwangsjacke zu stecken und in eine Gummizelle zu sperren, sind sie nichts als inkompetente Witzfiguren. Dann kann ihnen auch nichts helfen, was ich zur Anhörung beitragen könnte. Ich will nichts damit zu tun haben.«
»Dir ist es also egal, dass er vielleicht auf freien Fuß gesetzt wird?«, schaltete sich Tracy ein. »Du hast doch selbst Töchter, oder? Machst du dir keine Sorgen um sie? Hast du seine Briefe nicht gelesen? Der Typ ist immer noch von uns besessen. Was, wenn er nach seiner Entlassung schnurstracks zu dir nach Hause kommt? Ich glaube nicht, dass die Episcopal School begeistert wäre, wenn er plötzlich vor der Tür stünde.«
Christine sah Tracy unverwandt an und sagte mit fester Stimme: »Ich lese ganz sicher keine Briefe von dieser Bestie. McCordy kann sie gerne behalten, das habe ich ihm klipp und klar gesagt. Glaubst du, ich will diese Briefe bei mir zu Hause haben? Und was meine Töchter angeht, engagiere ich gerne für jede von ihnen einen eigenen Bodyguard, falls es nötig werden sollte. Aber ich glaube nicht, dass das ein realistisches Szenario ist. Jack mag ja verrückt sein, aber er ist nicht dumm, und ich glaube nicht, dass er es so toll im Gefängnis findet, dass er nach einer eventuellen Freilassung eine erneute Verhaftung riskiert. Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet …« Sie wollte sich an uns vorbeidrängen, aber Tracy verstellte ihr den Weg.
»Schön, du willst also nichts damit zu tun haben, das haben wir mittlerweile verstanden. Dann verrate uns wenigstens, mit wem wir an seiner Uni sprechen müssen, um mehr über seine Arbeit und sein Leben zu erfahren. Wie gehen wir da am sinnvollsten vor?«
Christine blieb stehen, und ich fürchtete schon, sie würde kehrtmachen und in die andere Richtung flüchten, aber sie musterte uns nur eine nach der anderen, als würde sie uns endlich als Angehörige ihrer eigenen Spezies wahrnehmen. Ließ sie die Erinnerung nun zu? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie all das Schreckliche, das ihr widerfahren war, erfolgreich verdrängt und hinter sich gelassen hatte, dass sie stark genug war, mit allem klarzukommen, was kam, auch mit Jacks Freilassung. Andererseits war Christine auch immer ein extremer Charakter gewesen – auf eine Weise unberechenbar, die immer ein ungutes Gefühl in mir hervorgerufen hatte. Einen Moment lang glaubte ich, einen Anflug von Trauer über ihr Gesicht huschen zu sehen. Sie schloss die Augen, ihre Lippen bewegten sich leicht. Als sie uns wieder ansah, zuckte sie schicksalsergeben mit den Schultern.
»Wie wäre es mit dieser jungen Frau, die damals im Prozess ausgesagt hat? Seiner wissenschaftlichen Hilfskraft aus der Zeit, die wir im Keller verbracht haben? Ist sie nicht inzwischen selbst Dozentin? Aline? Elaine? Adeline? So ähnlich hieß sie doch.«
Christine hatte den Prozess also sehr wohl verfolgt. Zumindest wusste sie mehr darüber, als sie zugeben wollte. Tracy nickte, und ich zog meinen Notizblock heraus und notierte mir, was Christine gesagt hatte.
Nach einer kurzen Denkpause fuhr sie fort: »Über eines habe ich im Laufe der Jahre immer wieder nachgedacht. Ich vermute, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um es zur Sprache zu bringen. Jack hatte unter den Psychologiekollegen so etwas wie einen Freund. Jedenfalls habe ich die beiden manchmal zusammen in der Mensa gesehen. Er hieß Professor Stiller. Ich hatte nie ein Seminar bei ihm, aber die beiden schienen sich regelmäßig zu treffen. Vielleicht hat es ja nichts zu bedeuten, aber …«
»Danke, C.« Tracy benutzte die Kurzform, mit der sie Christine manchmal im Keller angesprochen hatte. »Das ist doch immerhin etwas. Tut mir leid … Tut mir leid, dass wir …«
»Schon gut«, wiegelte Christine ab. »Und viel Glück.« Für einen Moment wirkte sie beinahe in sich gekehrt. Dann richtete sie sich auf und fügte leise hinzu: »Aber lasst mich bitte aus der Sache raus.«
Während wir den Rückzug antraten, beobachtete ich, wie Christine auf eine andere perfekt gestylte Mutter zueilte, links und rechts von ihrem Gesicht Küsse in die Luft warf und dann fröhlich plaudernd mit ihr davonging, so als wäre sie nicht gerade auf dem Bürgersteig von
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