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Danach

Danach

Titel: Danach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koethi Zan
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damals nicht klug oder belesen genug, um zu verstehen, wovon er sprach, aber inzwischen weiß ich, worauf er sich in seinen langen, weitschweifenden Vorträgen bezog: Nietzsche, Bataille, Foucault. Er sprach viel von Freiheit, ein Wort, das mich aus seinem Mund zum Weinen brachte, sogar an Tagen, an denen ich mir geschworen hatte, mich von keiner seiner Aussagen berühren zu lassen. Ich bin stärker als er, redete ich mir ein. Meistens war ich nicht besonders stark, aber ich glaube, am Ende war ich es.
    Mit der Zeit bekam ich den Eindruck, dass er nicht aus einem inneren, unkontrollierbaren Drang heraus folterte. Er war einfach ernsthaft an Folter interessiert. Ihn faszinierte, was er uns antat und wie wir darauf reagierten. Während wir uns vor ihm vor Schmerzen wanden, analysierte er genauestens, wie lange wir die Tränen zurückhalten konnten. Es interessierte ihn, warum wir uns so sehr dagegen wehrten, dass er uns weinen sah. Manchmal fragte er uns nach dem Grund, hakte immer wieder nach. Aber wir wagten es nicht, ihm die Wahrheit zu sagen, egal worüber.
    Er wusste, dass er uns mit willkürlichem Verhalten aus dem Konzept brachte, dass er uns damit Angst einjagte. Und Angst war sein Elixier. Er konnte von einer Sekunde auf die andere die Rollen wechseln und vom Beichtvater zum irrsinnigen Teufel werden. Manchmal lachte er laut vor Vergnügen, wenn er die Angst in unsere Augen kriechen sah.
    Es war unmöglich, ständig alles vor ihm geheim zu halten. Er hatte schnell heraus, wie sehr mich Jennifer beschäftigte, wie sehr ich litt, weil ich nicht wusste, was während der langen Tage in der Kiste in ihrem Kopf vorging. Ich hätte ihn gerne gefragt, wie sie damit zurechtkam und ob sie noch alle fünf Sinne beisammen hatte, aber ich wollte auf keinen Fall preisgeben, wie viel sie mir bedeutete, also schwieg ich monatelang. Er wusste es natürlich trotzdem. Er wusste, wie nahe wir uns standen und dass wir nicht nur Kommilitoninnen gewesen waren, die sich zufällig nachts ein Taxi teilten. Vielleicht hatte er Jennifer dazu gebracht, Einzelheiten auszuplaudern, vielleicht hatte sie mich aber auch nur um Hilfe gerufen, während sie auf der Folterbank lag. Ich sollte es nie erfahren.
    Jedenfalls wusste er genug, um sie als Druckmittel gegen mich einzusetzen. Manchmal fragte er mich, ob ich noch ein bisschen mehr Schmerzen ertragen könne oder einen noch etwas tieferen Schnitt, wenn ich ihr damit half. Er schien mich zu einer möglichst heldenhaften Entscheidung bewegen zu wollen, und ich ging darauf ein. Ich ertrug so viel ich konnte, und wenn ich dann doch irgendwann um Gnade flehte, sah er mich enttäuscht an, so als würde ich damit zugeben, dass ich sie nicht genug liebte, dass ich nicht in der Lage war, sie vor dem zu beschützen, was er ihr nun leider, leider antun musste.
    Ich fing an, mich für meine Schwäche zu hassen. Ich hasste meinen Körper dafür, dass er nicht alles einfach so wegsteckte. Ich hasste mich selbst dafür, dass ich bettelte und mich vor diesem Mann erniedrigte. Nachts träumte ich davon, ihm das Gesicht zu zertrümmern, mich wie eine Todesfee gegen ihn zu erheben, brüllend, hysterisch, kraftvoll. Aber wenn er mich dann tagelang hungern ließ und zu mir kam, um mich mit kleinen Häppchen aus der Hand zu füttern, leckte ich sie ihm wie ein Tier von den Fingern, gierig, dankbar und erbärmlich – zur Bettlerin degradiert, wieder einmal.

14
    Am Ende flog ich allein nach Portland, zum zweiten Mal in zwei Wochen. Tracy hatte den Glauben an unsere Mission wieder verloren – oder vielleicht auch nur die Nerven – und war noch am Abend unseres Gesprächs mit Christine zurück nach Northampton gefahren, mit der Ausrede, sie werde in der Redaktion gebraucht. Offenbar war ich die Einzige, die stark genug war, der Vergangenheit ins Gesicht zu blicken. Dieser Gedanke gab mir Kraft, und ich fühlte mich der vor mir liegenden Aufgabe jeden Tag ein wenig mehr gewachsen. Meine Entschlossenheit wuchs, auch wenn ich noch immer keine heiße Spur hatte.
    In gewisser Weise gab mir die Suche ein neues Ziel und zum ersten Mal seit zehn Jahren das Gefühl, etwas für Jennifer zu tun. Wenn ich ihre Leiche fand und sie auf dem idyllischen kleinen Friedhof in Ohio neben ihren Vorfahren zur letzten Ruhe bettete, verlor die ganze Erfahrung vielleicht etwas von ihrem Schrecken. Schließlich gibt es viele Menschen, die zu jung sterben. Die Tatsache, dass sie tot war, konnte ich inzwischen beinahe akzeptieren. Was ich

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