Dance of Shadows
ihn. Nachmittags probst du doch immer
La Danse du Feu
, oder? Das ist nicht etwa eine Extraszene in diesem Ballett. Es ist ein Ritualtanz, der das Tor zu einer anderen Welt öffnet. Deshalb wurde er in der Uraufführung nicht dargeboten, und auch seither in keiner Inszenierung. Es ist mehr als der Schlusstanz eines Balletts. Es wird dein letzter Tanz sein.«
Vanessa lachte ungläubig. »Das Tor zu einer anderen Welt?«
Justins Miene blieb unverändert ernst. »Ich weiß, es klingt komisch, aber es stimmt. Ich beobachte Josef schon seit Langem.« Er hielt das Stück Kolophonium hoch, das er Vanessa entwunden hatte. »Anfang des Jahres hab ich genau dasselbe gemacht wie ihr beiden heute. Ich hab mich in seinem Büro versteckt und beobachtet, wie er mithilfe dieses seltsamen Kolophoniums ein uraltes Buch über Ritualtanz las. Seither hab ich mich so oft wie möglich in seine Bibliothek geschlichen. Die Bücher dort sind mit irgendeiner uralten unsichtbaren Tinte geschrieben. Man kann sie nur im Licht einer Kolophoniumflamme lesen. Ich weiß nicht, woraus die Tinte besteht oder wo sie herkommt – niemand weiß das, und seit Jahrhunderten hat sie auch niemand mehr herstellen können. Möglicherweise benötigt man dazu ein Element aus einer anderen Dimension, das es in unserer Welt nicht gibt.«
Vanessa versuchte dem zu folgen, was Justin ihr da erzählte. Uralte Bücher über okkulten Tanz und eine geheimnisvolle, unsichtbare Tinte, die Geheimnisse bewahrte.
Dreizehn Tänzerinnen
, hatte Justinin sein Diktiergerät gesprochen.
Plus eine Solotänzerin
.
Beim Gleichstand der Planeten. Am dreizehnten Dezember.
Da Zeps Part mitten im
Danse du Feu
endete, waren es zum Schluss tatsächlich nur noch dreizehn Tänzerinnen – plus eine Solistin.
Vanessa.
Und es stimmte auch, dass Josef diesen seltsamen Tanz viel öfter mit ihnen geprobt hatte als die anderen Szenen des
Feuervogels.
Sie dachte zurück an ihre Begegnung mit Helen am Eingang zum Central Park.
Die richtigen Schritte mit dem richtigen Tänzer können eine verheerende Wirkung haben
, hatte Helen sie gewarnt.
Vielleicht war doch nicht alles aus der Luft gegriffen, was Justin ihr hier erzählte?
Noch immer sah Vanessa ihn skeptisch an. »Dann steht in diesem Buch also, dass der Tanz das Tor zu einer anderen Welt aufstößt? Deshalb lässt uns Josef diesen angeblich verschollenen Tanz aus dem
Feuervogel
aufführen?«
»Genau.« Justin schien erleichtert darüber, dass sie ihm wenigstens noch zuhörte.
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber warum nur?«
»Der Mythos besagt Folgendes: Wenn der Tanz mit der richtigen Tänzerin perfekt dargeboten wird, tritt ein Geist durch das Tor.«
»Was meinst du damit –
ein Geist
? Der Geist eines Verstorbenen?« War das der Grund, warum die weißen Figuren zum Leben erwacht waren, als Vanessa getanzt hatte? Warum die Figur, die Margaret so auffällig ähnlich sah, sich ihr genähert hatte? Hatte Vanessa ihren Geist heraufbeschworen?
»Nein«, sagte Justin. »Nicht der Geist eines Verstorbenen. Ein böser Geist.« Er stockte, senkte den Kopf und sagte mit düsterer Miene: »Ein Dämon.«
Vanessa erstarrte. Glaubte Justin das wirklich? »Nein«, widersprach sie. »Es gibt keine Dämonen. Das … glaube ich einfach nicht.«
»Aber Geister gibt es?«, konterte Justin. »Du musst mir ja nicht glauben. Betrachte einfach nur mal die Fakten. Es gab seit jeher eine ganze Reihe Choreografen, die sich mit dem Okkulten befasst haben. Diese Bücher in Josefs Bibliothek sind nur die Spitze des Eisbergs. Josef ist nicht der Erste, der sich in Dämonenbeschwörung versucht, derzeit aber wohl der Einzige. Im Lauf der Geschichte gab es unzählige Anläufe, die meist erfolglos blieben. Josef ist bei seinen Beschwörungen schon weit gekommen, viel weiter als jeder andere seit Langem.«
»Erfolglos? Dann ist es also doch nichts weiter als ein Tanz? Wenn dabei doch nichts passiert?«
»Nicht ganz«, erwiderte Justin. »Du hast ja bereits einen Vorgeschmack bekommen, wie es sich anfühlt.«
Vanessa schüttelte den Kopf. »Wie meinst du das?«
»Wenn die richtigen Tänzer den richtigen Tanz in fast überirdischer Perfektion ausführen, dann werden die Grenzen zwischen den Welten durchlässig. Die Realität verschwimmt. Die Wände wirbeln herum, der Boden schwankt, Lichtstrahlen krümmen sich, und Farben scheinen zu verblassen. Die Zeit verlangsamt sich, bis die Wirklichkeit unserer Welt ausgelöscht ist.«
Er hielt inne und
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