Dance of Shadows
bildhaft vorstellen, wie Margaret auf demselben Stuhl gesessen hatte wie sie jetzt, die Beine sittsam übereinandergeschlagen und den Blick nervös auf die schwingende Pendeluhr gerichtet.
»Sie war eine exzellente – nein, eine wundervolle –Tänzerin. So zerbrechlich. Es schien geradezu wie ein Wunder, dass ein so zartes Wesen auch nur einen Lufthauch in Bewegung versetzen konnte.«
Vanessa schwieg, obwohl sie genau wusste, wovon Josef sprach. Sie dachte an ihre Schwester, an ihre zierlichen Knöchel, bei denen man, wenn sie einen Sprung tat, dachte, sie müssten jeden Augenblick brechen. Doch das war natürlich nie geschehen.
»Das ist Sinn und Zweck des Balletts«, sagte Josef, als lese er ihre Gedanken. »Den Anschein zu erwecken, als sei das Unmögliche möglich. Deine Schwester hatte das fast erreicht. Sie ließ uns glauben … « Er beendete den Satz nicht. »Aber das weißt du natürlich selbst am besten.«
Vanessa sah ihn wortlos an, und bei der Erinnerung an Margaret stiegen ihr Tränen in die Augen.
»Du fragst dich sicher, warum ich dich hergebeten habe.«
Vanessa antwortete mit einem leichten Nicken.
»Ich habe dich beobachtet.«
Vanessas Herz setzte einen Schlag aus. Er hatte sie also tatsächlich gestern Abend im Probenraum des Theaters beobachtet.
»Deine Kondition ist sehr gut, und deine Schrittfolgen sitzen alle. Wenn du sie darbietest, kommen sie einem sogar vollkommen natürlich und gar nicht choreografiert vor. Sie fließen aus dir heraus wie dein Atem, und selbst deine Übungen an der Stange sehen aus wie hohe Ballettkunst.«
Vanessas Gesicht drückte ungläubiges Staunen aus. Hatte sie sich gerade verhört?
»Deine Beine«, fuhr er fort und deutete auf ihre muskulösen Schenkel. »Das Haar. Dieser ungezähmte Blick in deinen Augen. Du bewegst dich wie ein Raubtier.« Er schüttelte den Kopf. »Du bist ganz anders als deine Schwester – aber du könntest noch besser sein als sie. Ich glaube … «, er hob den Zeigefinger. »Ich glaube, du könntest fantastisch sein. Furchteinflößend, aber fantastisch.«
Der Blick seiner dunklen Augen ruhte auf ihr. Er wartete auf eine Antwort, aber Vanessa brachte nicht mehr als ein heiseres »Wie bitte?« heraus.
Josef lachte. »Du findest, das stimmt alles gar nicht, was ich gesagt habe?«
»Nein … ich … es ist nur, ich dachte, Sie würden mich rauswerfen.«
Josefs hob amüsiert die Augenbrauen. »Dich rauswerfen?« Er musste lachen. »Siehst du? So etwas hätte Margaret niemals zu mir gesagt. Aber du bist wild und voller Leidenschaft.« Er stand auf und sah auf sie herab. »Allerdings ist es eine fehlgeleitete Leidenschaft. Du liebst das Leben leidenschaftlich, aber nicht das Tanzen. Streite es nicht ab, denn ich kann es in deinem Gesicht lesen. Du liebst das Tanzen nicht so sehr, wie andere es tun.«
Verlegen senkte Vanessa den Blick. Wie hatte er das alles erraten?
»Margaret hätte die Rolle des Feuervogels getanzt, wenn sie an derNew Yorker Ballettakademie geblieben wäre. Ich habe zwar neulich gesagt, die meisten Rollen würden an die älteren Schüler gehen, aber ich suche noch immer eine Solotänzerin.«
Vanessas Herz setzte einen Schlag aus. Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zu Zep. Sie sah sein kantiges Gesicht und seine große, muskulöse Gestalt vor sich.
»Du tanzt für dein Alter sehr ausdrucksvoll, aber selbst deine perfekte Kondition kann deine mangelhafte Leidenschaft nicht verbergen. In dieser Hinsicht hast du noch einen weiten Weg vor dir, bevor du deiner Schwester das Wasser reichen kannst. Mir kommt es fast so vor, als wäre es dir gleichgültig.«
Vanessa sank in ihrem Stuhl zurück, und all ihre Hoffnung schwand dahin.
»Aber wenn du irgendwie einen Weg findest, in den kommenden Wochen über dich selbst hinauszuwachsen, und wenn du zulässt, dass dich der Tanz mit jener Art von Leidenschaft erfüllt, wie sie eine Tänzerin in sich tragen muss, dann würde ich dich gerne für eine Rolle in der Aufführung in Betracht ziehen.«
Eine Rolle im
Feuervogel
? Wenn sie daran dachte, dass sie mit der Befürchtung in Josefs Büro gekommen war, von der Schule zu fliegen!
»Danke, Josef«, sagte sie strahlend. »Mir … mir geht in letzter Zeit einfach so vieles durch den Kopf. Aber ich kann diese Dinge auch abschalten; ich weiß genau, dass ich das kann.«
»Du musst nichts abschalten«, widersprach Josef. »Du musst die Dinge nur richtig einsetzen. Für uns dürfen Leben und Tanz nicht
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