Dancing Jax - 01 - Auftakt
überhaupt?«
Paul starrte die beiden mit aufgerissenen Augen an. »Hab ich nicht!«, verteidigte er sich. »Da waren keine Kracher. Das war das Buch!«
»Paul!«, fuhr Martin ihn an. »Lass es gut sein.«
»Warum glaubt ihr mir nicht?«, schrie er. »Wann bitte hab ich denn jemals so einen Schwachsinn gemacht? Es lag an Dancing Jacks – das schwöre ich!«
Doch der Ausdruck auf den Gesichtern der Erwachsenen verriet ihm, dass sie seiner Version nie Glauben schenken würden, auch wenn es die Wahrheit war. Sie konnten es einfach nicht akzeptieren. Ihm fiel es ja selbst schwer – obwohl er es mit eigenen Augen gesehen hatte. Es gab keine Möglichkeit, sie oder irgendjemand sonst davon zu überzeugen.
»Rein mit dir«, befahl Martin.
Paul blickte nach oben. Er wusste genau, was er gesehen hatte. Er wusste, dass es echt gewesen war. Inmitten dieser Flammen war eine Gestalt in den Himmel geflogen – eine gehörnte Gestalt.
19
So reitet er hinein, der Beste von allen. Der Kreuzbube, so kräftig und groß. Tapfer und großmütig ist dieser fesche Ritter. Tiere und Maiden, beide sind ihm verfallen.
Der Pier bei Felixstowe war einmal der längste in Ostanglien gewesen. Als man ihn 1905 eröffnete, erstreckte er sich achthundert Meter weit in die Nordsee hinaus und am hintersten Ende befand sich eine Landungsbrücke für Dampfschiffe. Sogar eine elektrische Eisenbahn hatte es gegeben, um die Passagiere und ihr Gepäck zum Strand zu bringen beziehungsweise von dort abzuholen. Nun war nur noch wenig mehr als ein Achtel des Stegs übrig und selbst das war gesperrt, weil man es nicht gefahrlos betreten konnte. Die Spielhöllen an dem Ende, das direkt am Strand lag, waren noch immer in Betrieb und grell beleuchtet, doch der hohe Steg aus Holzplanken, der aufs Wasser führte, würde nie wieder geöffnet und letztendlich abgerissen werden – von den Menschen oder vom Meer.
Das Gebäude, in dem sich die Spielautomaten befanden, stand auf Betonsäulen, die es über der abschüssigen Küste hielten. Die Wellen schwappten und strömten gegen das Fundament der Pfeiler, knabberten und fraßen geduldig daran.
An diesem Abend saß unter dem mit grünem Moos bedeckten Betonboden der Spielhalle eine einsame Gestalt und brütete in der zunehmenden Dunkelheit vor sich hin.
Conor Westlake kam immer hierher, wenn er Probleme hatte. Er mochte es, an dieser Stelle im feuchten, weichen Sand zu sitzen – wenn man von hier aus aufs Meer blickte, ergaben die Holzsäulen des Piers eine gerade Linie und formten einen Säulengang, der sich am Horizont verlor. Hier saß er dann, flog im Geiste diesen Korridor entlang und versuchte, seinen Körper und seine Probleme hinter sich zu lassen, um zu dem Tor aus Licht am anderen Ende zu gelangen und allem zu entkommen.
Es war ein unangenehmer Tag gewesen. Owen Williams hatte ihm erzählt, dass die Eltern von Kevin Stipe gefragt hatten, ob er helfen würde, den Sarg bei der Beerdigung ihres Sohnes zu tragen. Viele der Jugendlichen, die bei der großen Katastrophe gestorben waren, wurden kommenden Sonntag bestattet. Am selben Morgen würde es auch einen Gedenkgottesdienst geben. Owen wusste nicht, was er tun sollte. Einerseits wollte er nicht ablehnen, andererseits wollte er nicht den Sarg tragen, in dem sein toter Freund lag.
Conor hatte schweren Herzens zugehört. Kevins Eltern hatten es verdient, zu erfahren, dass ihr Sohn gestorben war, als er die anderen aus diesem verfluchten Auto retten wollte. Er war als Held gestorben. Dieses Geheimnis konnte Conor nicht länger für sich behalten. Er musste es ihnen erzählen – und der Polizei, und zwar alles, was er wusste. Gleich morgen früh würde er die Nummer wählen, die eigens wegen des Vorfalls eingerichtet worden war, und eine Aussage machen.
Diese Sache hatte Conor so beschäftigt, dass er die merkwürdigen Vorfälle an seiner Schule gar nicht wahrgenommen hatte. In der Mittagspause war die Anzahl an Schülern, die sich sonst auf eine Runde Fußball einfanden, verschwindend gering gewesen und als er sie im Schneidersitz am Spielfeldrand sitzen sah – lesend –, hatte er sich nichts weiter dabei gedacht. Nicht einmal von dem Angriff auf Mrs Early hatte er etwas mitbekommen.
Er nahm sein Handy aus der Tasche und suchte Emma Taylors Nummer heraus. Hier ging es um trauernde Menschen, die man ein wenig trösten konnte, indem er ihnen die Wahrheit sagte. Aber Emma waren die Gefühle anderer so egal wie die Betonpfeiler, die Conor umgaben.
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