Dancing Jax - 01 - Auftakt
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»Aber strapaziere meine Geduld nicht«, warnte er noch, bevor er einstieg. »Wenn du noch einmal versuchst, meiner Heiligkeit Schaden zuzufügen, erwartet dich ein schlimmeres Schicksal als der Tod.« Dann nickte er dem Schwarzgesicht am Steuer zu und der VW-Bus setzte sich in Bewegung. Mit starrem, düsterem Blick fixierte der Ismus Paul, bis das Campingmobil abbog.
Der Junge atmete aus. Er war ganz durchgeweicht vor lauter Angstschweiß. Zitternd steckte er seinen Schlüssel ins Schloss, trat ins Haus und schloss schnell die Tür hinter sich.
Prompt erschien Martins Kopf in der Wohnzimmertür.
»Also«, sagte er mit ernster Miene. »Wohin bist du heute Nachmittag verschwunden?«
Auf die Schnelle fiel Paul keine gute Lüge ein. »Wo ist denn Mum?«, fragte er stattdessen.
»Schon zur Arbeit. Sie musste ihre Schicht tauschen – aber lenk nicht vom Thema ab. Wo warst du?«
Paul stöhnte. »Ich wollte nicht zu der blöden Psychotante.«
»Dein Benehmen in letzter Zeit gefällt mir nicht«, schimpfte Martin.
Paul war zu müde und gestresst, um noch zu streiten. »Es kommt nicht wieder vor«, sagte er kleinlaut.
»Wir waren beide krank vor Sorge!«, fuhr Martin fort. »Du hättest wenigstens anrufen oder eine SMS schicken können, damit wir wissen, wo du steckst. Als du nach der Schule nicht auf mich gewartet hast, wusste ich wirklich nicht, was ich davon halten sollte. So kenne ich dich gar nicht. Wo bist du denn hin?«
»In die Stadt.«
»In die Stadt? Wozu?«
Gerne hätte Paul ihm alles erzählt – von Trudy, vom Ismus, von dem Polizisten. Doch jetzt, da er in seinen gewohnten vier Wänden stand und über alles nachdachte, kamen selbst ihm diese Ereignisse absurd und bizarr vor. Wie konnte er da von Martin erwarten, dass er ihm Glauben schenkte?
»So ein Benehmen erwarte ich von den Idioten in meiner zehnten Klasse!« Martin redete sich in Rage. »Du bist doch vernünftiger als die – zumindest habe ich das immer gedacht!«
»Es tut mir leid, okay?«
»Nein, das ist nicht okay. Wehe, du lässt zu, dass deine Mutter noch mal so etwas durchmacht! Sogar Gerald und deine Oma hat sie angerufen, um zu fragen, ob du vielleicht bei ihnen aufgetaucht bist. Am besten, ich rufe die zwei gleich an und lasse sie wissen, dass du wieder da bist. Und du – du meldest dich bei Carol und entschuldigst dich!«
Paul nickte nur und holte sein Handy aus dem Rucksack. Daran hatte er den ganzen Nachmittag kein einziges Mal gedacht. Er hatte es nach der Schule nicht mal eingeschaltet. Auf der Stelle verkündete eine Reihe von lauten Piepsern acht verpasste Anrufe und fünf SMS von Martin und seiner Mutter. Mit schlechtem Gewissen sah Paul sie sich an. Trotzdem stand noch immer so viel auf dem Spiel. Wenn sie ihm doch bloß zuhören würden, dann würden sie es begreifen!
Gerade wollte Paul seine Mutter anrufen, da hielt er inne und schlug sich gegen die Stirn, weil er so dumm gewesen war. Natürlich gab es einen Erwachsenen, dem er vertrauen konnte – jemand, der ihm immer ein guter Freund gewesen war und der ihm zuhören würde, ohne ihn anzubrüllen! Paul hörte, wie Martin mit eben diesem Jemand gerade telefonierte. Sein Klavierlehrer Gerald.
Zwanzig Minuten später, nachdem er seiner Mutter eine reumütige Nachricht auf der Mailbox hinterlassen hatte, schickte Paul Gerald eine SMS.
An: Gerald
Hi! Kann ich morgen nach der Schule vorbeikommen?
Steck in Schwierigkeiten + muss reden.
Nahezu sofort kam die Antwort.
Von: Gerald
Natürlich! Wenn ich dir irgendwie helfen kann … Aber sag deiner Mutter Bescheid, dass du kommst!
Wie immer war Paul beeindruckt davon, wie schnell Gerald tippen konnte. Außerdem waren seine Nachrichten immer ohne jeden Rechtschreibfehler, ohne Abkürzungen und enthielten stets die korrekten Satzzeichen. Er schickte ein Danke! zurück und wandte sich dann seinem Computer zu. Heute Abend brachte seine Google-Suche nach Dancing Jacks doppelt so viele Ergebnisse wie gestern. Paul hoffte inständig, dass Gerald wusste, was zu tun war.
Später in der Nacht, als der Großteil der Stadt schon im Bett war, war am Strand eine breite Pilgerschar zu sehen. Es waren knapp dreißig Leute und allesamt weiblich: Frauen und Mädchen verschiedensten Alters. Ohne dass ihre Partner oder Eltern es bemerkt hatten, waren sie aus dem Haus geschlichen und steuerten jetzt auf den Betonbunker zu, der in der Nähe des Golfklubs von Felixstowe stand. Barfuß und nur mit
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