Dancing Jax - 01 - Auftakt
Flecken, die sie ihr zugefügt hatten. Es war die Jacke, die sie in den letzten Monaten gestrickt hatte – die schwarze Wolle, die von lila Glitzerfäden durchzogen war, war unverkennbar. Anscheinend war von dem Material genug übrig gewesen, sodass Mrs Early sich daraus auch ein Haarnetz hatte häkeln können. Es ließ sie altertümlich und matronenhaft aussehen.
»Entschuldigen Sie bitte die Verspätung, Miss!«, sagte Paul.
Die Lehrerin lächelte ihm zu. »Es sind ja nur ein paar Minuten«, sagte sie in ihrem tranigen Ton. »Außerdem gehörst du doch zu denen, die mir neulich zu Hilfe gekommen sind. Dafür habe ich mich noch gar nicht bei dir bedankt.«
»Es ist schön, dass Sie wieder da sind, Miss«, meldete sich ein Mädchen zu Wort.
»Danke«, sagte Mrs Early liebevoll. »Diese Stunde heute soll uns allen Spaß bereiten. Keine Tests, keine Aufgaben, wir verfassen auch keinen Hefteintrag.«
Die Klasse jubelte – zumindest die Schüler, die keine Spielkarten trugen. Zwölf von Pauls Klassenkameraden waren bereits infiziert.
Schon heute Morgen beim Anwesenheitscheck war ihm aufgefallen, wie viele inzwischen von Dancing Jacks besessen waren. Wie passend dieses Wort doch war! Das böse Buch hatte sie wirklich in Besitz genommen.
Da waren zum Beispiel die kleine Molly Barnes und zwei ihrer Freundinnen, dann die fünf, die gestern bei der psychologischen Beratung gewesen waren, und noch vier ihrer Kumpel. Die Karten, die sie trugen, hatten unterschiedliche Symbole und Ziffern, aber keine davon war höher als eine Sieben – Bildkarten gab es gar nicht. Paul bemerkte, dass auch Mollys Mund diese unnatürlich gräuliche Farbe hatte, die er im Schulhof schon auf den Lippen anderer gesehen hatte. Es wirkte, als habe sie ein glitzerndes Eis am Stiel gelutscht und gleichzeitig an einem Bleistift – und dabei gehörig gekleckert.
»Was machen wir denn dann, Miss?«, fragte Gillian Gregor.
»Ich dachte daran, euch etwas vorzulesen«, teilte Mrs Early allen mit und lächelte dabei versonnen. »Etwas Inspirierendes und Wundervolles. Schließt die Augen und lasst euch von der Kraft der Worte, die vor langer Zeit von einem Genie niedergeschrieben wurden, an einen magischen Ort entführen.«
»Igitt … Shakespeare«, beschwerte sich Terry Farnham leise.
»Nein«, widersprach die Lehrerin. »Heute nicht. Ihn brauchen wir nicht.«
Die Härchen in Pauls Nacken stellten sich auf und er spürte ein unangenehmes Prickeln – es war das gleiche Gefühl, das er in seinem Zimmer gehabt hatte, an dem Abend, als er das Buch verbrannte.
Mrs Early bedachte ihre Schüler mit einem freundlichen Lächeln. Ihre Augen waren unnatürlich dunkel und schimmernd. »Ihr werdet es lieben«, versprach sie.
Vor ihr auf dem Pult lag bereits ein aufgeschlagenes Buch. Dasselbe, das sie am Tag des Angriffs mit heimgenommen hatte. Das Buch, das sie gelesen hatte, um zu begreifen, was an jenem Tag vorgefallen war. Die Lehrerin schlug die erste Seite auf und fing an.
Angst ergriff Pauls Herz.
»Jenseits der Silbernen See, umgeben von dreizehn grünen Bergen …«
Ihre gemächliche, melodische Stimme lullte die Schüler ein. Die Kinder mit den Spielkarten lauschten gebannt mit offenem Mund. Dann begannen sie sich vor- und zurückzuwiegen. Die anderen drehten sich um und betrachteten sie verwirrt. Mrs Early las weiter. Draußen vor den Fenstern wurde das Tageslicht schwächer, bis nach und nach Schatten die Ecken des Klassenzimmers erfüllten.
Paul rieb sich die Augen und bemühte sich, wach zu bleiben. »Nein«, nuschelte er. »Darf nicht …«
Jetzt schlich er durch einen gemauerten Flur. Er trug eine elegante Samttunika, die waagrecht in Rot und Gold gestreift war. Sein Gesicht wurde von einer schwarzen Seidenmaske verborgen, in die zwei Löcher für die Augen geschnitten waren. Er war in Mooncaster und es war mitten in der Nacht. Er war auf dem Weg in den Westturm, zu den Gemächern des Königlichen Hauses der Herzen. Von den Wänden hingen bunte Teppiche und entzündete Fackeln, die in Halterungen aus Eisen steckten, ließen tiefviolette Schatten über die Wände huschen.
Er passierte einen gewölbten Durchgang und gelangte hinaus auf die Zinnen. Die Mitternachtsluft war erfüllt von schweren Düften: Jasmin und nach Nacht duftende Wurzeln. Über den Gärten der Herzkönigin tanzten goldene und silberne Falter und direkt vor ihm, am Ende der Zinnen, ragte der Westturm auf Die strahlenden weißen Steine glitzerten im Sternenlicht
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