Dancing Jax - 01 - Auftakt
niederließ. Doch seine Gattin starb jung und hinterließ ihm einen einzigen Erben.«
»Austerly!«
»Nein, einen aufgeweckten kleinen Jungen namens Ezra. Und dann kam es zu dem großen Skandal – der Doktor heiratete erneut.«
»Warum war das so skandalös?«
»Weil er eine seiner Bediensteten heiratete. Nein, nicht Geralds Großmutter – sondern die Frau, die er als Nanny für den kleinen Ezra angestellt hatte. In der Londoner Gesellschaft des viktorianischen Zeitalters gehörte sich so etwas einfach nicht. Selbst heute erregt es noch Aufsehen, wenn etwas Derartiges geschieht. Sie können sich also vorstellen, wie aufgebracht die Leute damals waren. Doktor Bartholomew hatte keine andere Wahl, als London zu verlassen. Er nahm seine neue Braut und Ezra mit sich und zog mit ihnen nach Suffolk aufs Land, nicht weit von Felixstowe. Erst da fand er heraus, dass seine neue Frau nicht ganz das war, wofür er sie gehalten hatte.«
»Wie meinen Sie das?«
»Die neue Mrs Fellows, Nettie, war, was man in der damaligen Zeit eine gefallene Frau nannte. Sie hatte nämlich ein uneheliches Kind. Ihr vorheriger Arbeitgeber hatte sie verführt. Die Existenz des armen kleinen Würmchens hatte sie vor allen geheim gehalten, indem sie es einem dieser abscheulichen Säuglingsheime anvertraute – einem der grausamsten Orte, die man sich überhaupt vorstellen kann. Verwahrloste Häuser waren das, in denen alte Weibsbilder hausten, die gegen Bezahlung Babys aufnahmen, weil die Gesellschaft entschieden hatte, dass ihre Mütter sie unmöglich behalten konnten. Schreckliche Zeiten waren das damals. Die Schande, eine unverheiratete Mutter zu sein, bedeutete für viele den Untergang. Kamen solche Geheimnisse an die Öffentlichkeit, verloren die Frauen ihre Arbeit und ihr Zuhause, deshalb gab es keinen anderen Ausweg für sie, als geldgierigen, garstigen alten Vetteln Geld zu zahlen, damit sie sich an ihrer Stelle um die Kinder kümmerten, und die kleinen Mäuse so oft wie möglich zu besuchen.
Natürlich waren die Betreiber dieser Heime alles andere als am Wohlbefinden ihrer Pfleglinge interessiert. Manchmal beherbergten sie zur gleichen Zeit Dutzende von Kleinkindern unter ihrem Dach und betäubten sie mit Laudanum, um sie ruhigzustellen. Wenn die Kinder nicht vor Vernachlässigung krank wurden und starben, dann verhungerten sie oder gingen an den starken Drogen zugrunde, die man ihnen in die Milch mischte. Es war nichts anderes als eine Massenkindstötung. Haben Sie gewusst, dass es damals mehr Gesetze gab, die die artgerechte Haltung von Vieh regelten und das Misshandeln von Nutztieren ahndeten, als für Kinder? Jeder Dahergelaufene konnte ein Säuglingsheim eröffnen und per Zeitungsannonce seine Dienste anbieten. Kinder hatten rein gar keine Rechte. So viel also zum Viktorianischen Wertesystem.«
Evelyn klopfte mit den Fingern den Takt einer Melodie aus der Operette H.M.S. Pinafore. Dann sang sie den Text dazu. »As many years ago when I was young and charming as some of you may know I practiced baby farming.«
Vor Missfallen schürzte sie die Lippen und schauderte.
»Das kleine Kind, das Nettie bei einem dieser Halsabschneider
›in Pflege‹ gegeben hatte – wenn man es so nennen möchte –, hieß Austerly.«
Martin setzte sich kerzengerade auf, doch Evelyn war noch nicht fertig – noch gab es viel zu erzählen.
»Als Doktor Bartholomew von Netties Geheimnis erfuhr, war er außer sich vor Wut und beschuldigte sie, ihn unter Vortäuschung falscher Tatsachen geheiratet zu haben, aber irgendwie schaffte sie es, ihn zu beruhigen. Was für eine Persönlichkeit sie gehabt haben muss – und wie sie ihn während dieser frühen Jahre noch um den Finger hat wickeln können! Bartholomew jedenfalls verzieh ihr und zog den Jungen sogar wie sein eigen Fleisch und Blut auf. Er holte ihn nach Suffolk und ließ ihn mit Ezra aufwachsen. Ein Jahr später dann brachte ihm Nettie eine Tochter zur Welt, Augusta.«
Evelyn betrachtete versonnen die Farben und Formen, die der Tiffany-Lampenschirm an die Wand zauberte. »Und hier kommt Geralds Großmutter ins Spiel. Sie trat ihre Stelle in dem prächtigen Haus an, das der Doktor nicht weit von hier gekauft hatte, und hasste jeden einzelnen Augenblick, den sie dort verbrachte.«
»Warum? Behandelte man die Angestellten schlecht?«
»Grausam waren sie nicht, die Fellows, aber außergewöhnlich seltsam, wie Sie gleich erfahren werden. Es war ein merkwürdiges Haus. Bartholomew investierte einen
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