Dancing Jax - 01 - Auftakt
Bühne standen stets alle fünf Instrumente bereit, nur die übrigen drei Musiker tauchten grundsätzlich nicht auf. Jedes Mal gab es dafür einen anderen, lustigen Grund, sodass Hole and Corner in die »unangenehme Situation« kamen, das Publikum bei Laune halten zu müssen, während sie vergeblich darauf warteten, dass ihre Kollegen doch noch auftauchten. Sie erzählten witzige Anekdoten über ihre abwesenden Musikerfreunde und gaben verschiedene Lieder zum Besten, indem sie schlussendlich jedes der im Stich gelassenen Instrumente selbst spielten.
Ihre Darstellung dieser zwei temperamentvollen, entzückenden alten Damen, die einem längst vergangenen Zeitalter angehörten, war so gelungen, dass einige Leute sich weigerten, zu glauben, dass es in Wirklichkeit zwei Männer in Frauenkleidern waren. Man konnte es eigentlich auch nicht als Dragshow bezeichnen. Es war alles andere als ein plumper Sketch der Sorte »Ich bin eine Lady und ich tue, was eine Lady so tut«, der schon nach fünf Minuten langweilig wird. Die Illusion war vollkommen. Die Fähigkeit von Hole and Corner, diese absolut überzeugende Welt zu erschaffen, ließ ihr Publikum lange Zeit in dem Glauben, dass alles echt war, und ihr Grundsatz, niemals Interviews als ihre wahren Alter Egos zu geben, trug sein Übriges dazu bei.
Martin starrte immer noch. Er versuchte, unter dem makellosen Make-up der Frau, die vor ihm stand, irgendetwas von Gerald zu erkennen. Aber nein, selbst einem prüfenden Blick aus nächster Nähe hielt es stand. Carol hatte ihm seit jeher eingetrichtert, dass er strikte Regeln zu beachten hätte, sollte er je die große Ehre haben, Evelyn vorgestellt zu werden. Sie mit offenem Mund anzugaffen und verräterische Fehler in der Verkleidung zu suchen, verstieß eindeutig gegen Regel Nummer eins.
»Ja, bitte, junger Mann?«, fragte eine Frauenstimme, die der von Gerald Benning kein bisschen ähnlich war.
Hastig riss Martin sich zusammen, obwohl sich die Fragen in seinem Hirn überschlugen. Warum hatte sich Gerald so verkleidet? Sie hatten das Dinner für heute Abend gestern am Telefon abgesagt, zur gleichen Zeit, als sie ihm von Pauls Verschwinden berichtet hatten. Dann erinnerte sich Martin an das, was Carol ihm über Evelyn erklärt hatte.
Die Hole-and-Corner-Show hatte es über dreißig Jahre lang gegeben und in dieser Zeit hatten Gerald und Peter absolut glaubhafte Biografien und Werdegänge erschaffen – nicht nur für diese beiden Charaktere und die allzeit abwesenden Musikanten, sondern für deren ganze Welt. Als Peter gestorben war und die querköpfige Bunty Corner (ausgezeichnet mit dem britischen Verdienstorden The Most Excellent Order of the British Empire) mit sich ins Grab genommen hatte, hatte es Gerald nicht übers Herz gebracht, auch Evelyn sterben zu lassen. Sie war so lange ein so wichtiger Teil seines Lebens gewesen, dass er es als illoyal, ja sogar respektlos, empfunden hätte, so zu tun, als hätte es sie nie gegeben. Denn für ihn – genau wie für Millionen von Zuschauern, die ihre Auftritte genossen hatten – existierte sie. Daher war es Professor Evelyn Hole alle paar Monate erlaubt, erneut aufzuerstehen und sich an dem Haus zu erfreuen, das mit dem Geld bezahlt worden war, welches sie verdient hatte.
Carol hatte ihre eigene Theorie, warum Gerald sein Alter Ego am Leben erhalten musste. Ja, es war seine Art, die Erinnerung an Peter aufzufrischen und sein Andenken zu wahren, aber das war nicht alles. Nachdem Gerald Evelyn so lange Zeit so viel Leben und Energie eingehaucht hatte, beanspruchte sie inzwischen vielleicht tatsächlich einen Teil seiner Psyche für sich und weigerte sich, in Vergessenheit zu geraten. Sie war nun ein Teil seiner Identität. Jedem, dem die große Ehre zuteilwurde, während ihres gelegentlichen Wiedererscheinens in den Genuss ihrer Gesellschaft zu kommen, war bewusst, dass die Illusion vollständig aufrechterhalten werden musste. Wer grobe Schnitzer beging oder so unhöflich war, sie zerstören zu wollen, wurde nie wieder eingeladen.
»Ich bin Martin«, stellte sich der Mathematiklehrer vor, nachdem er sich an die Grundregeln erinnert hatte, auch wenn er sich noch immer nicht erklären konnte, warum diese Scharade gerade jetzt gespielt wurde. »Ein Freund von Gerald.«
»Ah, aber ja«, erwiderte Professor Hole, als träfen sie sich zum ersten Mal. »Der Verlobte von Carol, der so beängstigend gut addieren kann. Gerald hat mir schon eine Menge von Ihnen erzählt – und nur
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