Dancing Jax - 01 - Auftakt
immer gab es nichts Neues. Der wachhabende Polizist versicherte ihr, dass man Streifenwagen ausgeschickt habe, um nach ihrem Sohn zu suchen. Carol glaubte ihm kein Wort und ihre Antwort war so voller Zorn, dass sie damit sogar Martin im Zimmer nebenan weckte.
Als er, sich die Stoppeln am Kinn kratzend, in den Flur schlurfte, fand er sie, wie sie das Telefon anstierte – mit einem geschockten, ungläubigen Ausdruck im Gesicht.
»Was ist passiert?«, fragte er und rechnete mit dem Schlimmsten.
Langsam drehte Carol sich zu ihm. »Nichts«, nuschelte sie. »Noch immer keine Spur von ihm, aber …«
»Aber was?«
»Der Polizist eben … Als er sich verabschiedet hat, kurz vor dem Auflegen … da hat er gesagt … ›Gesegneten Tag‹.«
»Mein Gott«, murmelte Martin.
»Ich habe solche Angst«, sagte Carol. »Was ist mit dieser Stadt los? Letzte Nacht, als ich draußen herumgefahren bin, da habe ich mich richtig gefürchtet. Und ich bin nicht paranoid. Dieser Irrsinn greift immer mehr um sich.«
»Dancing Jacks« ,murmelte Martin. »Paul hatte recht, du hattest recht.«
»Aber was können wir tun?«
»Komm mit mir zu Gerald. Er will uns etwas zeigen.«
»Was denn?«
»Keine Ahnung, aber es war ihm wirklich wichtig.«
»Einer von uns sollte hierbleiben – vielleicht kommt Paul ja doch zurück«, sagte Carol. »Und ich will meine Mutter besuchen, um sicherzugehen, dass bei ihr alles in Ordnung ist. Warte doch, bis ich wieder da bin, bevor du zu Gerald fährst, okay?«
Martin war einverstanden. Nach einer Dusche und einem kleinen Frühstück verbrachte er den restlichen Vormittag damit, sein Allerheiligstes weiter aufzuräumen. Die Trümmer füllten sieben große Müllbeutel. Es war nichts mehr übrig, was sich aufzuheben lohnte. Kurz blickte er in Pauls Zimmer. Es roch darin nach Nässe und auf dem Schreibtisch türmte sich ein Haufen Schimmel. Schaudernd zog Martin die Tür wieder zu.
Carol kam erst am späten Nachmittag von ihrer Mutter zurück. Unterwegs hatte sie noch auf der Polizeiwache haltgemacht, in der verzweifelten Hoffnung, jemanden ausfindig zu machen, der noch nicht unter dem Einfluss dieses Buches stand. Aber sie schaffte es noch nicht einmal an dem wachhabenden Officer vorbei. Mit großen dunklen Augen hatte er sie angestarrt und ihr versichert, dass alles gut werden würde.
Ihre eigenen Augen umrandeten inzwischen vor lauter Sorge und Müdigkeit schwarze Ringe. Entgegen ihren Protesten steckte Martin sie ins Bett. Wenn sie sich nicht endlich etwas Schlaf gönnte, würde sie niemandem helfen können.
Wenig später stieg der Mathematiklehrer in sein Auto und fuhr durch die Stadt. Für einen Samstagnachmittag war es in Felixstowe ausgesprochen ruhig. Martin sah lediglich eine Handvoll Leute, die in und aus Läden gingen, und auf den Straßen herrschte kaum Verkehr. Daher erreichte er Duntinkling, die Pension von Gerald Benning, in null Komma nichts.
Als er aus dem Auto stieg, hießen ihn die gedämpften Laute von Geralds Klavier willkommen. Es war irgendeine Melodie von Ivor Novello. Martin kannte sie aus dem Film Gosford Park. Das war der einzige Weg, auf dem er Musik kennenlernte – durch Soundtracks. Ansonsten war er ein völliger Ignorant. Er wartete, bis das Lied zu Ende war, dann drückte er auf die Klingel.
Umgehend ertönten schnelle Schritte, deren Echo im Gang widerhallte, dann öffnete sich die Eingangstür.
Martin war mitten in seinem Hallo, als ihm das Wort auf der Zunge gefror. Die Person, die geöffnet hatte, war nicht Gerald Benning. Es war eine ältere Dame mit stahlgrauem Haar, das zu einer strengen Frisur hochgesteckt war, und einer Hornbrille an einer feinen Kette, die um ihren Hals hing. Sie trug ein altmodisches, doch schickes schwarzes Abendkleid und eine zweireihige Perlenkette mit dazu passenden Ohrringen. Ungeduldig und erwartungsvoll blickte sie ihn an.
Martin Baxter blinzelte. Er hatte sie schon oft gesehen, im Fernsehen und einmal auch im Theater: Professor Evelyn Hole.
Martins Gedanken überschlugen sich. Vor ihm stand die eine Hälfte von Hole and Corner, dem einst so berühmten Gespann. Gerald Benning und sein verstorbener Partner, Peter Drummond, hatten zwei der liebenswertesten Charaktere britischer Unterhaltung geschaffen, an die man sich noch immer gerne erinnerte. Hole and Corner waren zwei ältere, aber lebhafte Junggesellinnen. Das Prinzip der Show war so simpel wie brillant. Beide Damen waren eigentlich Teil eines Musikerquintetts. Auf der
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