Dancing Jax - 02 - Zwischenspiel
schon in den Flur, stoppte am Treppengeländer und lugte in den ersten Stock hinauf.
»Tante Jen?«, schrie er. »Ich bin’s, Reggie.«
»Oh, Reggie!«, kam die leise Antwort. »Ich wusste, du würdest es schaffen.«
Reggie hastete nach oben. Seine Tante klang müde. Was hatte sein Onkel ihr angetan? Hatte er sie eingesperrt? Vielleicht war sie gefesselt.
»Warum bist du nicht in den Park gekommen?«, fragte er, als er oben angekommen war. »Wir wollten uns doch treffen. Was war denn hier los?« Er warf einen schnellen Blick ins Badezimmer, dann in die Zimmer seiner Cousins. Alle waren sie leer.
Am hinteren Ende der Galerie lag das Schlafzimmer seines Onkels und seiner Tante, die Tür stand offen. Im Innern war es dunkel.
»Ich konnte leider nicht, Reggie«, antwortete seine Tante aus der Finsternis. Das Gefühl von Freude und Erleichterung in Reggie flaute schlagartig ab. Stattdessen machten sich eine böse Vorahnung und Furcht breit.
»Warum?«, wollte er wissen.
»Es hat alles keinen Sinn, Reggie«, antwortete seine Tante.
Der Junge trat einen Schritt näher. »Warum hast du mir denn nicht Bescheid gegeben?«
»Ich konnte nicht.«
»Warum? Was hat Onkel Jason mit dir gemacht? Und wo sind alle?«
Diesmal erhielt er keine Antwort.
Reggie streckte seinen Kopf ins Schlafzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen, doch entlang der Ränder sickerte von draußen die Aprilsonne herein. Zuerst dachte Reggie, auf dem Bett läge jemand, doch dann wurde ihm klar, dass es nur ein Stapel Kleidung war. Schubladen und Schränke waren durchwühlt worden und der Inhalt lag kreuz und quer im Zimmer verstreut. Dann bemerkte er eine Gestalt, die vor einem Schminkspiegel saß und sich im Zwielicht gedankenversunken darin betrachtete.
»Tante Jen?«, fragte er zaghaft. Der Umriss rührte sich nicht. »Jen?«, probierte er es noch einmal.
Noch näher wagte Reggie sich nicht heran. Hierherzukommen war ein Fehler gewesen. Im fahlen Licht konnte er gerade so erkennen, dass ein Schleier aus schwarzer Spitze den Kopf der Frau bedeckte.
»Ich habe dich schon vor Stunden erwartet«, sagte sie, während sie den Spiegel nicht aus den Augen ließ.
Reggie wich einen Schritt zurück. »Ich hatte Angst, dass dir etwas passiert ist«, murmelte der Junge. »Irgendwas Schlimmes.«
»Es ist etwas passiert, Reggie. Aber nichts Schlechtes. Etwas sehr, sehr Gutes sogar.« Die Frau stand von ihrem Stuhl auf, drehte sich um und hob den Schleier.
Mit einem entsetzten Keuchen stolperte Reggie aus dem Zimmer. Tante Jen setzte ihm mit flotten Schritten nach und trat aus der Dunkelheit hinaus auf die Galerie. Reggie wich rückwärts vor ihr zurück und tastete sich bis zur Treppe vor.
Seine Tante trug eine Robe aus schwarzem Tüll und Taft, die bei jeder Bewegung raschelte wie ausgedörrtes Gras. Lange Seidenhandschuhe reichten bis zu ihren Ellbogen und um ihren Hals hing eine Kette aus glitzernden schwarzen Perlen. Ihr einst so freundliches Gesicht war zu einer finsteren Grimasse verzerrt. Rabenschwarze Lippen machten ihren Mund hässlich und ihre Augenbrauen wirkten, als hätte man sie mit Kohle nachgefahren. Tante Jen hatte sich eine Spielkarte an die Brust gepinnt und auf ihrer Wange prangte ein aufgemaltes großes schwarzes Pik.
»Nicht du!«, wimmerte Reggie. »Nicht auch noch du!«
»Ich bin die Pikkönigin«, raunte sie ihm zu. »Es ist vergangene Nacht geschehen. Nach so langer Zeit hat sich mir der Weg endlich geöffnet. Ich wurde in das Reich jenseits der Silbernen See geholt und wachte im herrlichen Schloss von Mooncaster auf. Endlich habe ich erkannt, dass diese graue Welt nichts als ein langweiliger, fader Traum ist. Ich bin eine der vier Unterköniginnen. Dies ist mein wahres Leben.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das stimmt nicht!«, brüllte er, obwohl er wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit ihr zu streiten. Er hatte sie verloren, genau wie seine Schwester und seine Eltern. Er musste von hier verschwinden.
»Es ist noch nicht zu spät für dich, Reggie«, sagte sie, während sie ihm die Treppe hinunterfolgte. »Die Frau Jennifer hatte dich gern, du warst ihr Neffe. Ich werde mich an den Heiligen Magus wenden, vielleicht kann er dir helfen. Du darfst kein Abtrünniger bleiben. Komm zu uns!«
»Nicht ums Verrecken!«, keifte er und rannte durch den Flur in die Küche, um seinen Rucksack zu holen. »Du und der ganze Rest, ihr könnt mich mal!«
»Abtrünnige werden nicht geduldet!«, erklärte sie, während sie
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