Dancing Jax - 02 - Zwischenspiel
folgen. Doch plötzlich fehlte von der Frau jede Spur. Wo war sie? Sie konnte in dieser kurzen Zeit schlecht die Treppe hinaufgeeilt sein, und um unbemerkt durch die Haustür zu verschwinden, hätte sie schon so schnell wie Jesse Owens sprinten müssen.
Estelle und Simon blickten sich verdutzt um, dabei lag die Antwort direkt vor ihnen. Irene hatte lediglich den Flur überquert und war hinter einer Tür unter der Treppe verschwunden.
Irene ging die Steintreppe in den Keller hinunter, die von einer einzigen nackten Glühbirne erleuchtet wurde. Unten angekommen, lief sie durch verlassene Gewölbe, bis sie in eine Kammer kam, auf deren Boden drei große konzentrische Kreise gemalt waren. Um sie herum hatte man fünf hohe schwarze Kerzen aufgestellt. Im Zentrum stand, vor sechs großen Holzkisten, Austerly Fellows.
Er hatte ihr den Rücken zugewandt. Als Irene eintrat, reagierte er nicht sofort. Die Hände flach auf die vorderste Kiste gelegt, hielt er den Kopf gesenkt, als würde er beten. Doch Irene wusste es besser.
»Warum verkriechst du dich hier unten?«, wollte sie wissen.
»Ich hatte mit Hankinson etwas zu besprechen«, antwortete der Mann mit geschmeidiger Stimme. »Ich hielt es für vernünftig, eine kleine Versicherung abzuschließen, für den Fall, dass heute Nacht irgendetwas misslingt. Zum ersten Mal habe ich ihn Jangler genannt. Er ist wie geschaffen für die Rolle des Lockpick.«
»Hankinson ist schon seit einer halben Stunde wieder oben und wird von seiner Frau tyrannisiert, dieser Brünhild von einem Weib. Du vernachlässigst deine Gäste, während du hier vor dich hin brütest. Joachim ist voller teutonischer Wut davongerauscht – eine Viertelstunde hättest du ihm schon widmen können.«
Der Abbot of the Angels richtete sich auf und das Kerzenlicht glitzerte auf seinem geölten, kahl geschorenen Kopf. Er war groß und trug eine lange Robe, ähnlich einer Mönchskutte, aus feinem schwarzem Leinen, eingefasst und durchzogen von goldener Seide.
»Heute Nacht habe ich keine Zeit für die immer gleichen Reden von Ribbentrop.« Er drehte sich um. »Das weißt du.«
Irene hielt wie immer den Atem an, als er sie mit seinen dunklen Augen durchbohrte. »Ich dachte –«
»Lass das Denken«, befahl er, trat näher, streichelte ihren weißen Hals und legte die Finger darum, bis sie exakt auf den jüngsten blauen Flecken lagen. »Deine kleingeistigen Meinungen interessieren mich nicht. Nicht deshalb behalte ich dich.«
Sie senkte den Blick. Niemand konnte seinem durchdringenden Starren lange standhalten.
Er beugte sich zu ihr und leckte mit seiner dicken Zunge über ihr Gesicht, dann wandte er sich ab.
»Ribbentrop kann sich von mir aus aufhängen«, brauste er auf. »Seine blinde Treue zu diesem Rumpelstilzchen aus Österreich langweilt mich.«
»Es ist kein Wettstreit«, meinte Irene und tupfte sich Wange und Augenlid trocken. »Warum hasst du Hitler so sehr? Seit er letzten Monat mit seinen Zinnsoldaten ins Rheinland einmarschiert ist, schmollst du. Ist es das wert, dass du deswegen eine so übertrieben schlechte Laune an den Tag legst?«
»Du begreifst rein gar nichts«, sagte er verärgert. »Wir sind Rivalen. Wir dienen beide demselben Meister. Hast du das noch nicht begriffen? Es ist ein Wettstreit, ein Wettstreit um seine Gunst und Aufmerksamkeit. Im Augenblick führt der Nazismus. Oh, ja, er ist attraktiv, glamourös und aufregend – und die schnellen Erfolge werden ungeheuren Eindruck schinden. Aber mehr als Krieg wird er nicht zustande bringen und Kriege funktionieren nicht. Meine Studien haben mir einen anderen Weg aufgezeigt, einen, der ein Ergebnis bringt, das viel langlebiger und zufriedenstellender ist. Komm her und schau dir diesen Schatz an.« Er führte Irene in die Kreise, zu den Kisten. »Hier drin«, hauchte er und konnte seine Vorfreude kaum noch im Zaum halten. »In diesen Holzkisten liegt die wahre Antwort, die einzige Endlösung, um der Verpestung durch den Frieden entgegenzuwirken.«
»Dein Buch?«, fragte sie. »Nach so langer Zeit ist Dancing Jacks also abgeschlossen?«
Die dünnen Lippen in dem kräftigen, fleischigen Gesicht öffneten sich zu einem abstoßenden Lächeln. »Neun Jahre habe ich dieser großen Aufgabe gewidmet. In diese Seiten habe ich all mein Wissen fließen lassen, all die uralten Weisheiten und Lehren, für die ich so viel aufs Spiel gesetzt habe. Und jetzt, endlich, ist es fertig. Bereit, seine Arbeit zu verrichten. Diese Bücher sind die
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