Danger - Das Gebot der Rache
unter Bernadettes Make-up. Ein Fleck. Als hätte sich Bernadette irgendwo den Kopf gestoßen.
Oder als wäre sie geschlagen worden.
»Nimm deine Brille ab.«
»Nein.«
Doch obwohl Bernadette einen Schritt zurück machte, griff Olivia nach der Brille und zog sie ihrer Mutter von der Nase. »Oh, mein Gott, er schlägt dich!«, sagte sie aufgebracht. Bernadettes Augen waren geschwollen, das Weiße gerötet, schwarz-blaue Abdrücke ringsum zu erkennen.
»Das wird schon wieder.«
»Bist du wahnsinnig?« Olivia wurde laut. »Das wird ganz und gar nicht wieder! Dieser Scheißkerl gehört ins Gefängnis! Es war Jeb, der dir das angetan hat, oder? Deshalb willst du ihn verlassen.«
»Ich muss jetzt los«, sagte Bernadette hastig. »Und du wirst zu spät zur Arbeit kommen.«
Ihre Mutter schickte sich an, das Café zu verlassen, doch Olivia fasste sie am Ellbogen. Die Gäste an den umliegenden Tischen starrten sie an, die Gespräche verstummten.
»Das ist Körperverletzung, Bernadette. Du musst dich an die Polizei wenden. Du musst ihn anzeigen, dafür sorgen, dass er damit aufhört. Ich kenne einen Beamten, der …«
»Ich werde nicht zur Polizei gehen, Livvie.«
»Aber dieser Bastard …«
»Schscht, das ist mein Problem. Ich komme schon damit klar«, sagte Bernadette und schob sich die dunkle Brille wieder auf den Nasenrücken. »Kümmere du dich bloß um deinen Vater, okay? Und mach jetzt bitte keine Szene!« Sie riss ihren Arm los und eilte mit gesenktem Kopf Richtung Ausgang.
»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich ein nervöser kleiner Mann mit einem bleistiftdünnen Schnurrbart, der an einem Tisch in der Nähe saß. Er blinzelte heftig.
»Ja«, sagte Olivia, »es ist alles in Ordnung.« Doch sie glaubte ihre Worte selbst nicht. Nichts war im Moment in Ordnung. Absolut gar nichts.
[home]
Kapitel sechzehn
D ie Bibliothek war fast leer, abgesehen von ein paar Studenten, die sich an einem Sonntagabend über ihre Bücher beugten. Nur die Hartgesottenen. Oder die, die nichts Besseres zu tun hatten, dachte Olivia, als sie ihr Buch zuschlug und den Rücken dehnte. Sie hatte um sechs den Laden geschlossen und war dann zum Campus gefahren, wo sie die letzten drei Stunden mit Lernen verbracht und die Begegnung mit ihrer Mutter zu vergessen versucht hatte. Sie hatte sich bemüht, sich davon zu überzeugen, dass sie Bernadette bei den Auseinandersetzungen mit ihrem gegenwärtigen Ehemann ohnehin nicht helfen konnte.
Oder könnte sie es doch?
War ihre Mutter vielleicht gar nicht in erster Linie zu ihr gekommen, um ihr von Reggie zu erzählen, sondern um das fadenscheinige Band ihrer Mutter-Tochter-Beziehung auszubessern?
Du hast ihr nicht mal eine Chance gegeben
, kritisierte eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf. Schuldgefühle überkamen Olivia.
Katholische Erziehung.
Danke sehr, Grannie Gin. Bernadette hatte damit sicher nicht viel am Hut.
Sie blätterte beiläufig durch zwei Bücher über die Psychologie von Soziopathen und erinnerte sich währenddessen an das letzte Mal, da sie ihre Mutter gesehen hatte. Bei Grannie Gins Beerdigung.
Es war ein drückender Tag gewesen, ein Tag, an dem einem die heiße Luft auf der Haut festzukleben schien. Bernadette hatte distanziert gewirkt, was aber nichts Ungewöhnliches war. Sie hatte in der Kapelle gesessen, den Worten des Pfarrers gelauscht, eine Rose auf Grannies Sarg geworfen und sich im Cottage blicken lassen, wo sich ein paar Familienmitglieder, überwiegend entfernte Cousins und Cousinen, und mehrere Freunde versammelt hatten. Doch sie war die meiste Zeit über für sich geblieben, hatte auf der hinteren Veranda Kette geraucht und an einem nie leer werdenden Glas Jack Daniels genippt. Sie schien tief in Gedanken versunken, und die wenigen Male, die Olivia zu ihr getreten war, hatte sie niedergeschlagen gewirkt. Hinter ihrem schwarzen Schleier waren ihr Tränen über die Wangen gelaufen.
Vielleicht, so wurde Olivia jetzt klar, hatte sie ihren Hut mit dem Spitzenschleier die ganze Zeit über aufbehalten, weil sonst ein Veilchen sichtbar geworden wäre.
Olivia stellte die Bücher zurück ins Regal, dann holte sie ihre Jacke und machte sich voller Gewissensbisse auf den Weg zum Parkplatz, die Autoschlüssel in der Hand. Der Abend war kalt, der Winter hatte Crescent City bereits fest im Griff. Es waren nur wenige Studenten auf dem Campus, Zweier- oder Dreiergrüppchen, die die Gehsteige entlangeilten. Olivia war die einzige Person, die allein unterwegs war, und zum
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