Dann fressen ihn die Raben
war das für uns das Einzige gewesen, was einen Sinn ergab. Wir verschmolzen zu einer Einheit. Als ob Liv Jonathans Platz in unserem dreiblättrigen Kleeblatt einnahm, das seither dunkler war, und effektiver. Wir waren dermaßen sicher gewesen, dass Jonathan in Aalborg war. Aber dann … Unsere Anstrengungen hatten zu keinerlei Ergebnis geführt, und wir hatten unsere Kräfte stattdessen darauf verwendet, die Sache hinter uns zu lassen. Inzwischen hatte sich jeder von uns ein halbes Jahr lang bemüht, nicht zu viel von Jonathan zu sprechen. In unserem Leben weiterzukommen. Und jetzt saßen wir schon wieder hier und beschäftigten uns damit.
Mateus’ unvermittelte Frage blieb an uns hängen wie ein Korn aus einem Brot, das sich zwischen den Backenzähnen verkeilt hat.
„Es wird wohl einer der Monkeys sein“, antwortete ich wenig optimistisch. Mateus schüttelte den Kopf.
„Vielleicht“, sagte er, „aber als er uns zum ersten Mal schrieb, ging es nur um Jonathan. Das war im letzten Jahr. Und damals sagte er nur, dass Jonathan dabei wäre, sich in Schwierigkeiten zu bringen.“
„Deshalb können die doch trotzdem dahinterstecken“, antwortete ich bitter.
„Und was hat er beim zweiten Mal geschrieben?“, fragte Mateus, obwohl ich mir sicher war, dass er sich genau daran erinnerte.
„Na ja, es ging um Borste und Afro und all das“, sagte ich.
„Das heißt, wenn es einer von den Monkeys ist, der uns schreibt – und sich Ikarus nennt – muss es einen Zusammenhang zwischen ihnen und diesen beiden Ganoven geben.“
Wir saßen eine Weile da, stumm und doch einander zugewandt. Irgendwann brach ich das Schweigen.
„Okay. Ich kann versuchen, der Sache nachzugehen. Aber ich glaube nicht, dass da was dran ist. Die Monkeys benehmen sich heiliger als eine indische Kuh. Und auf jeden Fall heiliger als Borste und Afro.“
„Können wir uns denn sicher sein, dass Ikarus nicht Jonathan ist?“, fragte Mateus zaghaft.
„Wenn das so ist, muss er so dicht an uns dran sein, dass er fast schon hören kann, was wir sagen. Das ist doch eher unwahrscheinlich. Und außerdem werden wir das nie herausfinden, wenn er es nicht selber will. Ich würde vorschlagen, wir lassen die Idee fallen. Und zwar völlig.“ Liv sah verzweifelt aus.
Wir kamen der Antwort einfach nicht näher. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Ich fühlte mich von Ikarus beobachtet, als hätte er mir einen Chip eingepflanzt, und jede meiner Bewegungen würde von einem Satelliten aufgezeichnet und an ein Büro irgendwo in der Unterwelt gesandt.
Gleichzeitig warf Ikarus eine Frage auf, die wir uns nur indirekt stellten. War Jonathan tot? Oder lebte er noch? Momentan wollte ich die Antwort lieber gar nicht hören. Denn wenn wir herausfänden, dass Jonathan tot wäre, würden wir alle wieder unser eigenes Ding machen, glaubte ich.
Zu Hause stand meine Mutter und packte schon wieder Gläser aus der Vitrine in Umzugskartons. Ihre Bewegungen waren kantig und energisch zugleich. Sandra war nicht wieder zu Hause aufgetaucht und ging auch nicht ans Telefon. Ich nahm an, dass meine Mutter beschlossen hatte, den Umzug trotzdem durchzuziehen. Gleichzeitig wirkte sie furchtbar traurig. Henrik war dabei, mit kleinen, professionellen Bewegungen das Silberbesteck zu polieren und es anschließend in kleinen Plastiktüten mit Patentverschluss zu verpacken. Ich beeilte mich, schnell wieder wegzukommen. Nichts wie raus hier. Den Gedanken an den Umzug schob ich immer weiter vor mir her. Ich hatte keinen Plan. Vielleicht konnte ich von Tølløse zum Gymnasium pendeln … oder bei Mateus wohnen … und seiner schlecht gelaunten Mutter? Nein, das war wohl eher keine Alternative.
Mein Telefon klingelte, und Miras Name blinkte auf dem Display. Ich ging ran.
„Hast du nicht Lust, heute Abend vorbeizukommen? Aske würde dir gern gratulieren. Wir wollen uns im Baresso in der Fredriksborggade treffen.“
„Ausgerechnet in so einer Kaffeekette?“
„Das war Askes Idee. Er meint, es sei ein guter Ort, um nicht aufzufallen.“
„Na gut. Aber da ist noch was, Mira. Kann ich nicht einziehen … in diese Wohnung in Christianshavn? Kann man dort wohnen?“
„Du kannst sicher da schlafen, wenn du Aske fragst. Aber warum denn?“
„Ich muss dringend mal eine Weile von zu Hause weg.“
„Du könntest ja auch bei mir einziehen, wenn du Lust hast? Also bei mir und meiner Mutter.“
„Das … ja, ich glaube, das würde ich gern.“
Schwups, und schon hatte ich einen
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