Dann fressen ihn die Raben
wir bei mir zu Hause angekommen waren und in meinem Zimmer saßen.
„Ja, es muss ihnen wirklich verdammt schlecht gehen.“
Ich öffnete den Karton, in dem Zeitungsausschnitte, Ausdrucke aus dem Internet und Schwarz-Weiß-Fotos lagen, die auf A4-Papier ausgedruckt worden waren.
Auf einem der Fotos sah man ein schmächtiges Mädchen, das gerade mit dem Bolzenschneider eine Eisenkette durchtrennte.
„Das ist Mira“, sagte ich und zeigte auf das Foto.
Montag. Schultag. Ich war so konzentriert wie schon lange nicht mehr. Das Adrenalin hatte meinen Körper auch nach der Befreiungsaktion am Samstag nicht zur Ruhe kommen lassen. Plötzlich hatte mein Leben einen neuen Inhalt, der auch meine Sinne schärfte. Ich hatte es sogar geschafft, mich ein bisschen auf Geschichte vorzubereiten, ein Fach, in dem ich dringend mal wieder einen guten Eindruck hinterlassen musste. Und Liv nickte mir anerkennend zu, als die Stunde vorbei war.
„Ist dir eigentlich klar, wie sehr du Berit und Cecilie mit deinem Auftritt gedemütigt hast?“, fragte sie grinsend, als wir den Geschichtsraum verließen.
„Da sitzen sie Tag für Tag in ihrem Kämmerlein und büffeln, und dann reißt du dich nur mal ein kleines Bisschen am Riemen, und schon stellst du sie mühelos in den Schatten.“
„Du sitzt doch wohl auch jeden Tag zu Hause und lernst“, entgegnete ich.
„Das stimmt. Mit dem Unterschied, dass ich um einiges schlauer bin als du.“
In dem Moment, als ich meine Retourkutsche loswerden wollte, entdeckte ich Rie. Auf meinem Gymnasium. In der Kantine. Und sie hatte mich auch gesehen. Ich ging auf sie zu. Sie holte weit aus und verpasste mir eine so schallende Ohrfeige, dass mein Schädel brummte. Ich beeilte mich, sie nach draußen zu ziehen, begleitet von den Pfiffen und Klatschsalven der begeisterten Zuschauer.
„Matrose?“ Ihre Starraugen waren feucht. „Lagerarbeiter?“
„Rie, verdammt.“
„Und in Wirklichkeit bist du nur ein lächerlicher Gymnasialschüler mit Bartwuchs. Du elendiger kleiner Pubertierender. Du Halbwüchsiger!“ Ein paar Schüler aus der Stufe über mir gingen an uns vorbei und glotzten.
„Dabei mochte ich dich wirklich. Und das war dir auch klar, oder?“ Draußen nieselte es. Sie trug eine langärmlige Jacke, ich nur mein T-Shirt.
„Ich habe mich so gefreut, als du mich letztens besuchen kamst.“
„Es war auch richtig nett bei dir.“
„Weil du mich mal eben flachlegen konntest, oder was?“
„Nein, es ist nicht so, wie du denkst.“
„Aha“, sagte sie. „Und wie ist es dann?“
„Ich mag dich doch auch.“
„Aha. Und deshalb gehst du nicht ans Telefon, wenn ich anrufe.“
„Ja, es ist, weil … es tut mir leid.“
„Hat ein echter Matrose in jedem Hafen ein Mädchen?“
„Rie, wie wäre es, wenn ich lieber heute Abend zu dir nach Hause komme?“
„Keine Ahnung, wie das wäre.“
„Dann können wir vielleicht was essen gehen?“
„Wine, dine, sixty-nine? Damit du anschließend ein bisschen mit der kleinen Krankenschwester kuscheln kannst, oder was?“
„Jetzt hör aber auf. Was willst du überhaupt? Habe ich dir denn jemals irgendwas versprochen?“ Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, um einen schnellen Ausweg zu suchen. „Falls du gedacht haben solltest, wir wären zusammen … Habe ich dir jemals irgendwas versprochen?“
„Ich habe meine Tage nicht bekommen.“ Dunkelheit. Ich auf ihr. Ihre Augen, die mich anstarrten. Ihr Orgasmus. Und dann bin ich in ihr gekommen. Ohne Kondom. Plötzlich sah ich alles glasklar vor mir.
„Fuck.“
„Ja. Fuck. Aber wie gut, dass nicht du das Problem hast, was, Matrose?“ Sie lief davon. Ich drehte mich um und ging wieder hinein.
Für den Rest des Tages konnte ich das Aktivitätsniveau aus der Geschichtsstunde nicht mehr halten. Mateus fragte belustigt, ob das mein Booty call gewesen sei. Ich grinste und fühlte mich blass und verschwitzt dabei. Meine Spermien. Ihre Eizelle. Ein kleiner Mini-Nick. Die ersten, zaghaften Schritte. Oder: kalte, scharfe Stahlinstrumente. Ries Schreie. Blut.
Liv sah mich ernst an.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte sie.
Ich antwortete nicht, also fuhr sie fort:
„Die Frauen sind verrückt nach dir, Nick. Ich glaube, du merkst das gar nicht. Aber es ist so.“
Wir hatten alle drei ein Kakaopäckchen in der Hand und saugten lärmend am Strohhalm.
„Leute. Wer ist eigentlich Ikarus?“, fragte Mateus plötzlich.
Wir hatten so viel Zeit damit verbracht, Jonathan zu suchen. Lange Zeit
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