Dann fressen sie die Raben
Entsetzen in ihren Augen und ihm ist klar, dass er sehr vorsichtig sein muss.
Schon als kleiner Junge musste ihn seine Mutter oft ermahnen: Amandla, wer auf einen Baum klettern will, fängt unten an, nicht oben. Jetzt ist er vom Blätterdach neben die Gazelle gesprungen und hat sie zu Tode erschreckt. Seine Ungeduld wird noch alle umbringen. Er muss an sie herankommen, er braucht eine Viertelstunde allein mit ihr, um ihr alles zu erklären, aber er fürchtet, sie wird ihm schreiend davonrennen, schließlich muss sie ihn für ihren Angreifer halten.
Außerdem ist sein Anblick furchterregend, voller Dreck und Blut, er braucht dringend neue Kleider und er kann sie sich nirgends beschaffen.
Außer … ihm kommt ein Gedanke und er weiß sofort, dass Kimoni diese Idee zutiefst verabscheuen würde. Er schüttelt den Kopf, als würde er wirklich mit ihm reden. Dir verdanke ich all das, nur deinem Dickkopf, ohne den könntest du noch leben. Ohne deinen Dickkopf würde vielleicht sogar sie noch leben. Also wage es nicht, mich davon abzuhalten.
Ich kann so nicht herumlaufen, damit bin ich viel zu auffällig und du weißt doch, unser bester Schutz ist es, unauffällig zu bleiben. Außerdem wird es dieser Frau nicht wehtun, ja, sie wird es nicht einmal bemerken, wenn etwas fehlt. Sie sind alle so reich in diesem Land, niemand hat mehr den Überblick über seinen Besitz. Niemand begreift, dass die Freiheit mit jedem Stück, das man zu viel besitzt, verloren geht.
Ja, ja, hört er leise Kimonis spöttische Stimme, nenn dich ruhig einen Freiheitskämpfer. Dabei bist du nur ein elender Dieb.
19. Kapitel
Als ich am nächsten Morgen aufwache und mich aufsetze, um dann ins Bad zu gehen, dröhnt mein Schädel und das ganze Gesicht tut mir weh. Ich brauche dringend ein Aspirin, kann mich aber nur so langsam und vorsichtig bewegen wie ein altes Weib, und deshalb höre ich das leise Gemurmel schon im Flur, bevor ich die Tür ganz öffne. Da wird großer Kriegsrat gehalten, den ich ganz offensichtlich nicht hören soll. Ich vergrößere den Spalt und lausche:
»Sie ist völlig verstört.« Mein Pa.
»Sie braucht eine Therapie.« Oliver.
»Sie braucht viel Liebe von uns allen.« Mam.
Kollektives Seufzen.
»Sie braucht mehr als das. Sie ist traumatisiert und driftet ab.« Oliver.
»Unsinn, das ist nur ihre Art, mit der Trauer umzugehen.« Pa.
»Wir sollten sie jedenfalls nicht mehr aus den Augen lassen.« Mam.
»Wäre sie dann nicht besser in einer Klinik aufgehoben?« Oliver.
»Nein!« Mam und Pa gleichzeitig.
»Aber ihr müsst arbeiten. Und auch ihr habt einen schweren Verlust erlitten.« Oliver salbungsvoll.
»Und du nicht?« Pa klingt sauer.
»Doch, natürlich, sie war für mich wie eine eigene Tochter.«
»Ach, wirklich?« Pa.
»Hört auf, ihr zwei.« Mam. »Lina ist tot und Ruby geht es schlecht, reicht das nicht? Müsst ihr auch noch aufeinander rumhacken?«
»Einer von uns sollte bis zur Beerdigung immer hierbleiben.« Pa.
Die Beerdigung. Langsam erwache ich aus den Tiefen des Valiumnebels und mein Hirn kommt etwas mehr in Schwung. Ich erinnere mich Stück für Stück, was gestern passiert ist.
»Ich kümmere mich gern um Ruby, aber ich müsste noch kurz ein paar Unterlagen bei Andreas abholen. Und um drei hab ich einen Termin, ich muss sehen, ob ich den umlegen kann.« Pa.
»Ich hab jetzt Schicht bis heute Abend.« Oliver.
»Mein Gott, und ich habe diese Wurzelsektion, den armen Kerl kann ich jetzt nicht mehr erreichen.« Mam.
»Sicher schläft Ruby noch eine Weile. Sie hat gestern zwei Valium bekommen, bis sie aufwacht, bin ich wieder da.« Pa.
Erleichtertes Aufseufzen allerseits.
»Ich schau mal nach ihr.« Mam.
Nichts wie weg, ich versuche, so schnell wie möglich zurück ins Bett zu kommen. Gleichmäßig atmen, zwinge ich mich, als ich wieder liege. Gar nicht so einfach, wenn sich alles dreht. Da schleicht meine Mutter schon herein und setzt sich neben mich.
Als sie mein Gesicht sieht, schnappt sie erschüttert nach Luft. Dann streicht sie mir über die Stirn, leicht wie ein Lufthauch. »Meine arme Kleine. Was machst du denn für Sachen? Was geht nur in deinem Kopf vor sich? Du warst immer schon so anders als ich. Es ist so schwer für mich, dich zu verstehen.«
Was redet sie denn da? Soll das heißen, sie denkt auch, ich bin verrückt?
Ich überlege, ob ich wach werden sollte, um sie davon zu überzeugen, dass ich zwar völlig normal bin, aber an Linas Tod gar nichts normal ist.
Aber dann würde
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