Dann fressen sie die Raben
Alex reden. Es macht mich ganz krank, wenn ich mir vorstelle, dass dieser Sklavenhandel seine Idee war. Aber vielleicht ist auch das nur wieder eine Zaubervorstellung von Dennis und in Wahrheit ist Alex’ Weste rein wie Persil. Aber so wie er sich über Schwarze geäußert hat und so panisch, wie Alex auf das Foto des toten Kimoni reagiert hat, fürchte ich, dass Dennis recht haben könnte.
»Okay, gehen wir.« Ich setze einen knappen Notruf ab, werfe das Handy in Dennis’ Schoß und beschließe, das zweite zu behalten. Von Weitem höre ich schon das Martinshorn, ich schaue zu John, er nickt und dann laufen wir los Richtung U-Bahn. Ich komme nur langsam vorwärts, weil mir jeder Knochen im Leib wehtut.
Bis wir dort angelangt sind, ist es völlig dunkel. Mich beschäftigen die ganze Zeit die Bilder dort unten im Keller. »Von woher kommen all diese Flüchtlinge?«
»Aus Afrika. Meistens von dort, wo die Rebellen die besten Waffen haben oder wo es am wenigsten zu essen gibt.« John hält mich davon ab, die Rolltreppen ganz nach unten zu fahren. »Wir brauchen noch einen Fahrschein, das lernst du als Allererstes. Illegale dürfen niemals auffallen.«
»Aber ich habe weder Geld noch ein Ticket bei mir.«
»Dafür muss man immer Geld haben.« John zieht eine blaue Streifenkarte aus Olivers Jogginghose und stempelt für uns beide. Dann erst gehen wir die Treppen zum Bahnsteig hinunter. Ich habe plötzlich eine Gänsehaut, muss wieder an den Stoß in den Rücken denken, an die Frau mit den vielen Tüten und an den freundlichen alten Mann.
Tüten. Stolpern. Kordel. Perlen. Mein Unterbewusstsein möchte mir etwas sagen, aber es dringt nicht durch, zu vieles beschäftigt mich.
»Es sind doch so viele. Warum wehren sie sich nicht gegen Dennis?«
John zuckt mit den Schultern. »Das kann nur jemand sagen, der jede Nacht in einem sauberen Bett schläft und jeden Morgen einen vollen Kühlschrank vorfindet. Jemand, der denkt, es ist normal, dass er sich mit einem Plakat Ich finde Angela Merkel total beschissen auf den Marienplatz stellen kann, ohne dass er und seine Familie verhaftet werden.«
Ich komme mir immer blöder vor, klar, all das ist für mich ganz normal.
»Zuerst sind sie froh, endlich ein Bett und einen sicheren Platz zum Schlafen zu haben. Und Arbeit. Dennis zahlt uns zwar nichts von dem Geld, das er mit uns verdient, aber er sorgt für Lebensmittel. Viele haben vorher auf der Straße gelebt und hatten weder zu essen noch Arbeit. Und du glaubst gar nicht, wie öde ein Tag ist, wenn du nicht das Kleinste bisschen zu tun hast. Du sehnst dich regelrecht nach Arbeit. Außerdem verspricht Dennis, dass er Papiere besorgt. Da überlegst du dir sehr genau, ob du dich mit deinem Besitzer anlegen willst.«
»Aber diese Papiere, die kommen dann leider nie, oder?«
»Ab und zu schafft er es wirklich und das nehmen viele von uns als Beweis dafür, dass sie nur Geduld haben müssen.«
»Warum hast du mir das nicht gleich beim ersten Mal erzählt, als du mich gesehen hast? Warum hast du mich nur häppchenweise mit Infos versorgt?«
»Weil ich nicht sicher sein konnte, auf welcher Seite du stehst. Ich wusste ja nicht, ob du zu ihnen gehörst und …« Er zögert.
»Ja?«
»Und ich hatte auch Angst vor mir selbst, vor dem, was ich tun könnte.«
Was meint er denn damit? Sofort drängt sich wieder Dennis’ Stimme in meinen Kopf. John ist der Schlimmste von allen . Nein, das will ich nicht glauben. Das kann nicht sein. Ich betrachte Johns eindrucksvolles Profil von der Seite, das starke Kinn und den vollen Mund, die hohen Wangenknochen und die breite Stirn. Dieser Mann hat mich schon zweimal gerettet, wie kann ich solche Gedanken haben?
Eine mit vielen luftigen Tüten bepackte Frau drängt sich an uns vorbei. Nachdem sie mein Gesicht gesehen hat, schnappt sie empört nach Luft und wirft John böse Blicke zu, als wäre er dafür verantwortlich. Ihre Tüten kommen ins Schaukeln. Tüten aus Papier mit dicken Kordeln dran, königliches Dunkelblau mit dezent goldenem Logo. Wie hypnotisiert starre ich auf sie, denke dabei wie ein kaputter Roboter: Die Farbe stimmt nicht, die Farbe stimmt nicht. Und dann begreife ich, was mein Unterbewusstsein mir die ganze Zeit sagen will. Die Beweise, ich weiß endlich ganz genau, wo ich die Beweise finde, die Lina versteckt hat.
John ist stehen geblieben. »Geht es dir nicht gut?«
Ich versichere ihm, dass alles in Ordnung ist, sogar in allerbester Ordnung, dann steigen wir in die
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