Dann fressen sie die Raben
allem, was passiert ist, bin ich mittlerweile sicher, dass der Aufzug neulich von Alex und Dennis gestoppt wurde, um mir Angst einzujagen. Wie leicht könnte Alex uns in der kleinen Kabine verrotten lassen.
Oben atme ich einmal tief durch, schaue zu John, der mir zunickt, dann klingele ich Sturm.
Alex macht die Tür auf, als hätte er dahinter schon gewartet.
»Du?« Ungläubig, aber irgendwie auch erleichtert zieht er mich geradezu über die Schwelle, erst als er John bemerkt, verdüstert sich seine Miene.
»Was will der denn hier?«
»Das musst du mir erklären.«
»Wo ist Dennis?«
Ich dränge mich mit letzter Kraft an ihm vorbei in sein Loft und zerre John hinter mir her, dann setzen wir uns an den Esstisch, an dem Alex das Foto von Kimoni zerrissen hat.
Alex folgt uns und pflanzt sich schweigend uns gegenüber auf einen Stuhl.
»Okay, Alex, was hat Dennis dir erzählt? Dass er mich entführt hat? Dass er seinen Knecht dazu gebracht hat, aus mir das Versteck von Linas Sachen herauszuprügeln?«
Alex schweigt, aber ihm ist ganz klar anzusehen, dass all das nichts Neues für ihn ist.
»Also?« Verdammt, ich hasse die Feigheit von diesen sogenannten Alphatieren, die nicht mal Manns genug sind, mir zu erzählen, was los ist!
Alex bleibt stumm. Ich wechsele einen Blick mit John, dann stehe ich wieder auf und stöhne unwillkürlich, weil sich mein ganzer Körper anfühlt wie ein Schlachtfeld.
»Dann gehe ich eben zur Polizei. Die sind schon ganz scharf drauf, einen Ring von Sklavenhändlern auszuheben.«
In Alex’ Gesicht beginnt es zu zucken. Mir kommt eine Idee, wie ich ihn provozieren könnte. »Was hätte eigentlich deine Maman dazu gesagt?«
»Lass meine Mutter aus dem Spiel!« Alex springt wütend auf und schreit so laut, dass wir erschreckt zusammenfahren. Zum ersten Mal sehe ich ihn ohne diese spöttische Gelassenheit, die er sonst so gern zur Schau stellt. Gut, denke ich, das ist der richtige Weg.
»Ich verstehe, deine Mutter war auch nie ein Fan von Onkel Toms Hütte?«
Alex ballt seine Fäuste und bleibt so nah vor mir stehen, dass sein gelber Cashmere-Pullover meine Wangen fast berührt.
»Du weißt nicht das Geringste, gar nichts weißt du.«
»Verdammt, dann erzähl es mir endlich! Fangen wir bei den Alphatieren an!«
»Unter vier Augen.«
Ich schüttle den Kopf, was keine gute Idee ist, weil die Würgespuren von dem Seil sich schmerzhaft in Erinnerung rufen. Jetzt reicht es mir. »Los!«
»Wir haben niemanden getötet.« Alex schaut mit herabgezogenen Mundwinkeln zu John. »Egal, was auch immer dieser verlogene kleine Scheißer dir für Märchen aufgetischt hat.«
Jajajaja. Und er ist die Wahrhaftigkeit in Person!
»Hör auf. Ich weiß, wozu euer Amari in der Lage ist. Hör auf, mich für blöd zu verkaufen.«
Wir starren uns an, jeder wutschnaubend und bereit zuzuschlagen, aber dann fallen Alex Schultern plötzlich nach vorn und er setzt sich stöhnend wieder hin, stützt die Ellbogen auf den Tisch und legt das Gesicht in seine Hände. Superdramatische Geste.
»Ich höre?«
Er hebt den Kopf wieder, seine dunklen Augen schimmern feucht.
Kann mein Stiefbruder auch noch auf Kommando weinen?
»Es war alles ganz anders, als du denkst.«
Aha. Dann also jetzt die selbstmitleidige Die-anderen-sind-schuld-Tirade.
»Was du nicht sagst.« Ich hoffe, meine Stimme klingt so angeekelt, wie ich mich fühle.
»Lange waren die Alphatiere in der Schule wirklich nur sozial engagiert.« Er holt tief Luft.
Achtung Enthüllung. Ich beschließe, ihm kein Wort zu glauben.
»Aber dann wurde meine Mutter getötet.«
»Bei einem Verkehrsunfall.«
»Oh ja, ein Unfall.« Seine Stimme wird bitter. »Abgesehen von der Tatsache, dass der Mann, der sie totgefahren hat, über zwei Promille im Blut hatte. Er ist, ohne zu bremsen, in sie reingefahren. Am helllichten Tag. Einfach so.« Alex schlägt mit der linken Faust leicht in seine geöffnete rechte Handfläche. »Buff, einfach so.«
Er schluckt ein paarmal, steht auf und holt sich ein Glas Wasser, das er in einem Zug austrinkt. Ich spüre plötzlich auch brennenden Durst, aber es wäre ein Fehler, Alex jetzt zu unterbrechen, deshalb warte ich schweigend, bis er sich wieder beruhigt hat.
»Sie stand an einem Fußgängerübergang, an dem Zebrastreifen vor meiner Schule, sie wollte mich abholen, es war mein Geburtstag.«
»Das tut mir leid, Alex.« Und das stimmt. Es tut mir leid, ich weiß jetzt, wie es ist, einen nahen Menschen zu verlieren.
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