Dann gute Nacht Marie
immer klaglos getan.
Als Marie aber an diesem Morgen wach in ihrem Bett liegen blieb und bereits eine halbe Stunde immer wieder die Schlummer-Taste ihres Weckers betätigt hatte, beschlich sie ein völlig neues Gefühl der Freiheit. Die Aussicht auf ihr nahes Lebensende bestärkte sie in dem Gedanken, sich nicht mehr willenlos den bestehenden Regeln zu unterwerfen. Warum sollte sie sich ohne Lust um diese Zeit aus ihrem gemütlichen Bett quälen, nur um für eine ihr gleichgültige Firma irgendwelche Dienste zu erledigen? Auf ein paar Tage mehr oder weniger kam es hier nicht an. UNTERSTREICHEN. Und auch die Angst vor einem eventuellen Jobverlust konnte an ihrer Einstellung natürlich nichts mehr ändern. Für die spärlichen letzten Tage würden zur Not auch noch die Ersparnisse reichen. Sie hatte also nichts zu verlieren, fand Marie.
So schaltete sie um acht Uhr den in regelmäßigen Abständen weiter nörgelnden Wecker ganz aus und wickelte sich in Erwartung des nun folgenden Zusatz-Schlummers erneut in ihre Bettdecke. Sollten die in der Firma sich nur Gedanken über ihren Verbleib machen! Schließlich hatte sie in den vergangenen zwei Jahren nicht ein einziges Mal gefehlt. Renate konnte sich sogar einen Tag entspannen, weil niemand ihre Ordnung in Teeküche und Kopierraum durcheinanderbrachte. Gratulation.
Zwei Stunden später war Marie ausgeruht wie selten und in ungewohnt gelöster Stimmung. Die Freude über den bei ihrem Über-Ich erstrittenen freien Tag beflügelte ihre Unternehmungslust. Und der Gedanke, dass eben dieses Über-Ich in den nächsten Tagen immer häufiger Sendepause haben würde, tat sein Übriges. Nach einer ausführlichen Dusche setzte Marie das erste Mal seit Langem ihre kleine Espressomaschine in Gang. Die Zubereitung eines Cappuccinos oder Milchkaffees und die danach notwendige Reinigung des gesamten Geräts war ihr in der letzten Zeit immer zu aufwendig gewesen. Obwohl der übervorsichtige Herr Ratzek die Stromversorgung in der Küche schon längst wieder hergestellt hatte, arbeitete die Maschine aufgrund ihrer vorangegangenen Zwangspause nur zögernd. Marie machte jedoch heute nicht einmal die sonst so verhasste Entkalkung etwas aus. DEFRAGMENTIERUNG.
Nach getaner Arbeit genoss Marie ein ausgiebiges Frühstück mit Milchkaffee, Müsli und Obstsalat, das sie auf einem kleinen Holztablett mit in ihr Bett nahm. Dabei gönnte sie sich die tägliche Wiederholung ihrer Lieblingstelenovela im Fernsehen, die sie schon seit mehreren Wochen nicht mehr gesehen hatte. Und wenn sie auch
die inzwischen erheblich vorangeschrittenen Geschichten nicht in allen Einzelheiten verstand, so war es doch ein gutes Gefühl, sich wieder einmal entspannt unterhalten zu lassen.
Als das Telefon klingelte, dachte Marie mit keinem Gedanken daran, abzuheben, sondern stellte den Fernseher lauter, um den anspringenden Anrufbeantworter zu übertönen:
»Frau Hartmann, wo bleiben Sie denn? Bitte rufen Sie sofort zurück, wenn Sie das abhören. Wahrscheinlich sind Sie schon auf dem Weg ins Büro. Dann betrachten Sie diesen Anruf als gegenstandslos.«
Pustekuchen. Frau Hartmann war nicht auf dem Weg ins Büro und dachte auch nicht daran, sich auf den Weg zu machen. Da konnte der olle Schmidt noch so oft den AB vollquatschen. SPEICHERN.
Im Gegenteil: Nach ihrer Lieblingstelenovela genehmigte sich Marie noch eine Folge der nächsten Serie. Jetzt erst recht. Genau an der dramatischsten Stelle klingelte erneut das Telefon. Nach Ablauf der AB-Ansage ertönte ein gleichmäßiges Tuten. Schmidt hatte offensichtlich keine Lust zu einer weiteren Kontaktaufnahme mit der Maschine. Marie dagegen entschied sich nun doch dazu zurückzurufen und meldete sich sofort nach dem Serienabspann telefonisch krank, um eventuellem Ärger zu entgehen. Schließlich fielen Krankheitstage gegen Ende des Lebens auch nicht mehr ins Gewicht. Anschließend beschloss sie, den überraschend freien Vormittag zur gründlichen Rundum-Körperpflege zu nutzen. Schon viel zu lange hatte sie sich dafür keine Zeit mehr genommen. Und schließlich wollte sie bei ihrer Aufbahrung körperlich einen möglichst guten Eindruck machen.
Sie ließ sich ein heißes Bad ein und gönnte sich eine Extraportion Schaum. Die Haare wurden gründlich gewaschen und die Achseln rasiert. Danach duschte sie sich kalt ab und stieg aus der Wanne. Sie frottierte sich gründlich trocken und rieb sich den ganzen Körper mit Bodylotion ein. Auch das zum ersten Mal seit Langem. Ein
Weitere Kostenlose Bücher