Dann gute Nacht Marie
Lebenszensur für die Nachwelt erste Schwachstellen aufwies. Sie nahm sich vor, in der nächsten Zeit sorgsamer darauf zu achten, dass ihre Bearbeitungsergebnisse zu Lebzeiten von ihrer Umwelt unbemerkt blieben. Eine zu frühe und damit ungewollte Veröffentlichung würde das ganze Unternehmen gefährden. Eine überaus wichtige Erkenntnis am Ende des Tages, fand Marie und löschte das Licht. SIE KÖNNEN DEN COMPUTER JETZT AUSSCHALTEN. ENTER.
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DOKUMENT9. Den darauffolgenden Mittwoch begann Marie in der Gewissheit, an diesem bedeutungsvollen Tag dem erfolgreichen Abschluss ihres Projektes einen großen Schritt näherzukommen. »Gefahren und Chancen durch Gift« war ein äußerst verheißungsvolles Thema für ein Seminar, fand Marie. Schließlich würde ein sorgsam ausgewähltes Gift ihre Chance sein, das Projekt »Lebensende« zu einem ebensolchen zu bringen. Der gute Herr Maibach mit der umständlichen Ausdrucksweise würde hoffentlich in seiner »Bestandsaufnahme« die entsprechende Anleitung liefern. Und das bitte in einer nicht um-, sondern ver-ständlichen Darstellung, sodass auch ein Laie wie Marie die Inhalte verstehen und vor allem, viel wichtiger, in die Tat umsetzen konnte. UNTERSTREICHEN.
In den vergangenen Tagen seit seiner freundlichen Einladung per Mail hatte Marie so viel für die Firma gearbeitet, dass die Zensur ihrer Hinterlassenschaften komplett auf der Strecke geblieben war. Die Präsentation für Schmidt, um die er sie am Freitag so nett gebeten hatte, nahm dann doch mehr Zeit als erwartet in Anspruch, sodass sie die Unterlagen übers Wochenende mit nach Hause nehmen musste. Eigentlich hatte sie keine große Lust, die spärlichen letzten Tage ihres Lebens mit Arbeit zu vergeuden, doch die neue Anerkennung des Chefs
hatte sie so bestärkt, dass sie die Aufgabe jetzt optimal erledigen wollte. Und tatsächlich war er am Montag voll des Lobes über ihre Einsatzbereitschaft und Fähigkeiten gewesen, was auch für den Dienstag weitere Aufträge und Überstunden nach sich gezogen hatte.
Am Mittwoch dagegen verließ Marie das Büro - für die Kollegen wegen eines Arzttermins - bereits Punkt siebzehn Uhr, um auf jeden Fall pünktlich in Raum 103 des Universitätsgebäudes II zu sein. Die Fakultät für Chemie und Pharmazie der Uni München befand sich in einem ganz anderen Stadtteil als das Institut für Informatik. Außerdem war es Jahre her, dass Marie zum letzten Mal ein Hochschulgebäude betreten hatte. SUCHEN.
Raum 103 schien der entlegenste der gesamten Fakultät zu sein. Fast wäre sie, von zwei Studentinnen zuerst in die falsche Richtung geschickt, doch noch zu spät gekommen, aber um fünf vor sechs kam sie rechtzeitig bei Raum 103 an, dessen Türe einladend offen stand. Einige Studenten hatten schon an den Tischen Platz genommen, die in der altbekannten Hufeisenform im Raum angeordnet waren.
Zögernd betrat Marie das Zimmer und sah sich suchend um. ANSICHT. Am Dozententisch kramte ein Mann in seiner Aktenmappe, der für den wortreich formulierenden Herrn Maibach reichlich jung schien. Vielleicht ein Assistent oder eine Hilfskraft, die Unterlagen für das Seminar vorzubereiten hatte? Komisch, dass das so kurz vor Beginn noch nicht erledigt war.
Marie steuerte zielsicher auf den Etwa-Ende-Dreißig-Jährigen zu und fragte: »Können Sie mir vielleicht freundlicherweise sagen, wann der Seminarleiter kommen wird?«
»Ich weiß ja nicht, wen Sie sich für die Leitung des heutigen Seminars erhoffen, aber würden Sie mir freundlicherweise zuerst sagen, mit wem ich im Augenblick die Ehre habe.«
Das war Herr Maibach. Kein Zweifel. RÜCKGÄNGIG. Kein guter Start für das Projekt »Giftmischerin Marie«. »Entschuldigen Sie. Mein Name ist Marie Hartmann.« Zeit gewinnen.
Zum Glück war Herr Maibach zwar in der Ausdrucksweise, nicht aber im Umgang umständlich: »Ah, die Krimiautorin! Herzlich willkommen. Freue mich außerordentlich, dass Sie für Ihre Recherche genau unser Institut ausgewählt haben.« Ein kräftiger Händedruck nahm Marie ohne Umschweife in die Reihe der Teilnehmer auf.
»Meine Damen und Herren, bitte schenken Sie mir vor Beginn unseres Seminars einen Augenblick Ihre geschätzte Aufmerksamkeit. Ich darf Ihnen eine außerplanmäßige Teilnehmerin unserer Veranstaltung vorstellen: Frau Marie Hartmann, die im Rahmen unseres Seminars die Recherche für ihren nächsten Kriminalroman vervollkommnen möchte. Ich bitte Sie sehr herzlich, sie bei ihrem Vorhaben nach bestem Wissen
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