Dann gute Nacht Marie
Kochrezepte und Geschenkentwürfe bis zu Bewerbungen und Steuererklärungen alles, was Marie in den letzten Jahren geschrieben oder entworfen hatte. Die Steuerdokumente wurden unmittelbar gelöscht. WOLLEN SIE DAS DOKUMENT WIRKLICH IN DEN PAPIERKORB VERSCHIEBEN? JA. ENTER. Schließlich gingen Maries finanzielle Verhältnisse, ihre Einnahmen und Ausgaben nun wirklich niemanden etwas an. Schlimm genug, dass ihr Konto … Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Ihr Konto - sofort auf die To-do-Liste. Am besten würde sie es auflösen und das Geld einem ihr sinnvoll erscheinenden Zweck zukommen lassen. Irgendwas mit Selbstmord. Oder dem Bund deutscher Hobbyfotografen. Oder einem Tierheim. Oder … Das war offensichtlich keine Frage, die sich jetzt zwischen Tür und Angel klären ließ. Sie wurde deshalb kurzerhand auf einen späteren Zeitpunkt vertagt. ZWISCHENABLAGE.
Also weg mit der Steuer und auch allen Bewerbungen. Die Stellen, die sie bekommen hatte, erklärten sich aus ihrem Lebenslauf, den sie kurz auf den aktuellen Stand brachte und für jeden erkennbar abspeicherte. Die Stellen, die sie nicht bekommen hatte, wollte sie als unbestreitbare Niederlagen lieber aus ebendiesem Leben streichen. Und zwar vollständig. LÖSCHEN. Die Kochrezepte, obwohl nicht sehr zahlreich vorhanden, bestätigten nur
das Klischee immer noch bestehender Geschlechterrollen und mussten ebenfalls ausnahmslos weichen. Die amtlichen Briefe waren zu langweilig, um einen Platz im Hartmannschen Nachlass verdient zu haben. Die persönlichen zu persönlich. Am Ende von Maries Radikalkur war der private Ordner um mindestens die Hälfte der Dateien leichter und um einiges übersichtlicher. SPEICHERN. Wieder einmal fragte sie sich, warum sie nicht schon zu »Lebzeiten« auf den Gedanken gekommen war, auf der Festplatte ihres Computers einmal gründlich auszumisten.
Da die Aktion »Laptop-Bereinigung« weit weniger Zeit in Anspruch genommen hatte als gedacht, saß Marie nun nach etwas mehr als zwei Stunden Arbeit gegen halb neun unternehmungslustig in ihrer Wohnung und plante die weitere Abendgestaltung. Die Recherche bezüglich verschiedener Möglichkeiten des Dahinscheidens lag erst einmal auf Eis. Zunächst sollte sie Herrn Maibach und seinen sicher hervorragenden Lehrmethoden eine Chance geben. WEITER. Der Lebenszensur war mit der Korrektur der gesamten Computerfestplatte und ihrer Inhalte für heute ausreichend Genüge getan.
Nach einigen weiteren Überlegungen griff Marie entschlossen zum Telefonhörer und rief Alma an: »Was machst du denn heute Abend noch so?«
»Hey, schön, dass du dich meldest! Soll ich vorbeikommen?« Typisch Alma. Sofort treffsicher zur Sache. »Dann könnten wir mal wieder was kochen … wie früher!« Wie früher. Das war wirklich schon eine Ewigkeit her. Und obwohl Marie eher an ein gemütliches Glas Wein zu zweit als an einen arbeitsreichen Kochabend gedacht hatte, ließ sie sich von Almas Freude anstecken. Sie versprach, schon einmal den Reis in die Kochkiste zu
stecken, und holte eine der letzten Flaschen des guten Rotweins aus dem Keller. Alma und sie hatten in der Küche des Öfteren zusammen den sogenannten Kochwein geleert. GESPEICHERT UNTER … SCHÖNE ERINNERUNGEN. Allein trank sie dagegen so gut wie nie ein Glas davon.
Kurze Zeit später stand Alma mit einem Korb Gemüse vor der Tür und grinste. »Na, hast du den Wein schon geöffnet?« Trotz ihres geringen Kontaktes in der letzten Zeit hatten sie offensichtlich immer noch die gleichen Gedanken. Eigentlich ein gutes Zeichen, fand Marie. SPEICHERN. »Wir machen es wie immer: Du schneidest die Zwiebeln und ich den Rest.« Wie Ben hasste auch Alma Zwiebelschneiden wie die Pest. Zum ersten Mal wurde Marie jetzt diese Parallele bewusst. Doch im Gegensatz zu ihrem Ex hatte die Freundin sofort einen Deal vorgeschlagen, den sie seit ihrem ersten gemeinsamen Abend konsequent praktiziert hatten: Marie schälte und schnitt die Zwiebeln und war zur Belohnung von allen anderen Schneidearbeiten befreit. Während Alma also die restlichen Zutaten zu kleinen Scheiben oder Würfeln verarbeitete, stand Marie den Rest der Zeit mit dem Weinglas in der Hand neben ihr und erzählte, rührte und würzte ein bisschen. GESPEICHERT UNTER … SCHÖNE ERINNERUNGEN.
So auch heute. Marie hatte ihre Aufgabe längst erledigt, und ein ansehnliches Häufchen Zwiebelwürfel wartete auf dem Schneidebrett geduldig darauf, in die heiße Pfanne zu dürfen.
»Hast du jetzt eigentlich mal in
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