Dann gute Nacht Marie
sich zu verteidigen oder auch um ihre Beute zu erlegen. Ein Exempel diesbezüglich stellt das Nervengift Tetrodoxin dar.«
Marie versuchte, sich auf den Vortrag des Dozenten zu konzentrieren und das Gesagte möglichst vollständig mitzuschreiben. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ihre Gedanken immer wieder zu den möglichen Komplikationen ihres angeblichen Autorendaseins wanderten. Nur ungern wollte sie von Herrn Maibach als Schwindlerin oder gar Hochstaplerin entlarvt werden. WEITERSUCHEN … Aber schließlich hatte es keinen Sinn, wegen einer besser auszubauenden Tarnung das zu vernachlässigen, weswegen sie hierhergekommen war. Marie verschob ihre Überlegungen auf den Abend und konzentrierte sich wieder auf das Seminar.
»Die Bestandteile beziehungsweise Effekte von tierischen Giftstoffen können sich äußerst verschieden auswirken.
Eine Vielzahl schädigt das Nervensystem, wobei sie Dauerkrämpfe und Lähmungen auslösen.« Absolut irrelevant. Marie strich das soeben Geschriebene mit einer heftigen Bewegung von ihrem Zettel. Auch die Tatsache, dass das Gift von Spinnen, die mit Nervengiften jagten, zersetzende Bestandteile enthielt, die das Gewebe des Beutetieres auflösten, nutzte ihr herzlich wenig. An ihren Gewebemassen hätte das arme Tierchen etwas zu lange zu zersetzen gehabt.
Während er sprach, notierte Lutz Maibach die wichtigsten Stichworte seiner Ausführungen an der Tafel, die an der Stirnseite des Raumes angebracht war. Marie war sehr froh darum, denn seine klar gegliederte, systematische Vortragsweise erleichterte ihr Verständnis und Aufzeichnung des Gesagten erheblich. Nichtsdestotrotz waren bis jetzt sämtliche der genannten Gifte für ihre Zwecke denkbar ungeeignet gewesen. LÖSCHEN.
Als Lutz Maibach nach eineinhalb Stunden Vortrag die erste Sitzung seines Seminars beendete, hatte Marie zwar viele Seiten vollgeschrieben und einiges dazugelernt, aber für ihre Zwecke keinerlei brauchbare Informationen erhalten. Nun ja, vielleicht sollte man nach so kurzer Zeit noch nicht gleich die Flinte ins Korn werfen. WEITER. Maibach verabschiedete sie persönlich und erkundigte sich interessiert nach der »kriminaltechnischen Verwertbarkeit« seines Unterrichts.
Marie antwortete wahrheitsgemäß: »Tja, heute war für mich leider noch nichts dabei. Davon sollten Sie sich aber in keinem Fall entmutigen lassen. Sicher hat der eine oder andere Ihrer Studenten heute einige wertvolle Inhalte mitnehmen können.« Im gleichen Moment erschrak sie über ihre lockere Antwort. Schließlich kannte
sie Maibach erst seit knapp zwei Stunden und hatte noch keinerlei Ahnung von Qualität und Quantität seines (hoffentlich vorhandenen) Humors. RÜCKGÄNGIG?
Doch ihr neuer Dozent erwies sich als durchaus souverän und schlagfertig. »Na, da bin ich ja froh, dass ich heute nicht völlig umsonst tätig gewesen bin. Ich werde mir bei den Vorbereitungen für die nächsten Sitzungen etwas mehr Mühe geben«, grinste er und zwinkerte ihr zu. »Und vielleicht bringe ich Sie ja im Laufe der Zeit doch noch dazu, mir genauere Details Ihres Romans zu verraten.«
»Ich werde mir ebenfalls Mühe geben«, erwiderte Marie trocken und verabschiedete sich. Nun musste sie sich schleunigst die von Maibach geforderten Details einfallen lassen, sollte nicht in einer der nächsten Stunden ihre so wohldurchdachte Tarnung auffliegen.
Unternehmungslustig trat sie den Heimweg an, im Kopf schon die unterschiedlichsten Variationen der gängigsten Verbrechen und ihrer Täter. Dazu kam natürlich noch die Frage nach einem oder mehreren Opfern, deren Umfeld und den entsprechend notwendigen Kriminalbeamten. Die Zutaten eines Kriminalromans waren ihr zumindest geläufig. Dann konnte der Rest ja nicht so schwer sein. Völlig in Gedanken versunken lief Marie die Straße entlang und kümmerte sich nicht um das, was um sie herum vorging. Sie erfand und verwarf Kriminalfälle aller Art, schuf und beseitigte Gauner und Polizisten unterschiedlichster Herkunft. VERWERFEN. Ganz so einfach, wie sie sich das »Krimi-Schreiben« vorgestellt hatte, war es offensichtlich doch nicht. Vermutlich war das der Grund, warum nicht jeder einigermaßen sprachlich Begabte einen Roman verfasste.
Außerdem wollte sie dem hilfsbereiten Herrn Maibach auch nicht unbedingt die Inhaltsangabe eines drittklassigen Werkes vorsetzen. Und schließlich musste die Geschichte in glaubwürdiger Weise mit ihrem Wunsch nach den erforderlichen Gift-Informationen kombinierbar sein.
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