"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
man sich das vorstellt. Eher ein zwischen Tür und Angel aus der Verlagsleitung im sechsten Stock gerauntes »Lust ins Büro des Chefs vom Dienst zu gehen, als Stellvertreter?«. Der neue CvD wusste aus den vergangenen Monaten um meine Funktionsfähigkeit. Schnell hatte er realisiert, dass da nicht nur ein Rücken-, sondern gleich auch ein Beidehändefreihalter engagiert werden kann. Natürlich nahm ich den Job an. Die Aufgabe war einfach: Arbeite und funktioniere, funktioniere und arbeite. 24 Stunden täglich nur ein Programm: FR . Die totale Rundschau. Alle kamen, alle wollten was. Und sie wollten es von mir. Egal, was es war, und es war immer alles: »Mein Laptop funktioniert nicht mehr.« »Wir können den Redaktionsschluss nicht einhalten.« »Die Anzeige kommt nicht.« »Kannst du mal mit vermarkten?« »Wie machen wir das mit dem Dienstplan?« »Wir brauchen eine Seite mehr!« »Das Toilettenpapier ist alle.« »In New York ist ein Flieger ins World Trade Center geflogen.« »Wie soll unser neues Magazin heißen?« »In der Druckerei wird gestreikt.« »Kannst du mal bitte über den Artikel auf Seite 3 lesen?« »Kann ich die Dienstreise zum Fußballspiel machen?« »Ich brauche einen neuen Schreibtisch.« »Wollen wir mal einen Kaffee trinken gehen?«
Ich lieferte, und ich servierte.
Erst später wurde mir klar, wie sehr die Bezeichnung CvD wirklich auf mich passte. Denn mein pausenloser Einsatz für andere, den ich im Job zeigte, war auch privat schon immer mein Elixier, mein Antrieb, meine Definition von mir selbst, meine Daseinsberechtigung. Eigentlich war ich schon immer der CvD – der Christian vom Dienst.
Bei der FR lernte ich auch meine heute beste Freundin kennen, den wichtigsten Menschen für mich: Steffi. Sie arbeitete als Redaktionsassistentin im Regionalen. Sie beklagte sich nicht darüber. Sie fühlte sich wohl, weil sie sich keine Gedanken darüber machte, was sein könnte, aber nicht ist. Steffi ist eine schlaue, reife Frau, die im Leben mehr Schatten- als Sonnenseiten gesehen hatte. Davon aber wusste ich nichts damals, als wir uns trafen. Ich wusste beinahe überhaupt nichts von Steffi. Außer dass sie älter war als ich und ich das Gefühl nicht loswurde, dass sie weit unter ihren Möglichkeiten eingesetzt wurde. Man hat sie einfach unterschätzt – oder anders: Keiner hat sie genug wertgeschätzt. Vielleicht lag es an der OP -Narbe, die ihr Gesicht zeichnete, zugefügt schon in früher Kindheit von einem Quacksalber, so dass sich keiner traute, genauer hinzusehen. Nie habe ich einen stärkeren Menschen kennengelernt als Steffi. Einer, den das Leben hart, aber nie abgestumpft oder verbittert gemacht hat. Im Gegenteil. Steffi nahm wahr, verarbeitete, speicherte. Sie ließ nicht mehr jeden in ihr Herz, aber wer es einmal erobert hatte, der wurde reich belohnt, und dem war der wärmste, wohligste Platz dieser Erde bereitet.
Immer wenn ich mit ihr zu tun bekam, war ich überrascht, wie scharfsinnig und klug sie Sachverhalte analysierte und Lösungen fand. Welch verständigen, versöhnlichen Blick sie auf Menschen und deren Probleme warf. Auch auf Menschen, die ihr nicht ausschließlich wohlgesonnen waren. Wolfgang Storz, FR -Chefredakteur in diesen bewegten Tagen, sah es ähnlich. Und alsbald saß Steffi statt in der Regionalredaktion in der Zentrale der Macht. Sie arbeitete mit einer Konsequenz, Kompetenz und Zuverlässigkeit, die ihresgleichen suchte. Aber auch mit Emotionalität, und manche Tage ertrug sie nur mit einer ordentlichen Portion Baldrian. Das, was alles kommen sollte, bewegte sie. Uns alle. Es war eine Achterbahnfahrt, bis schließlich der Schlitten zu schnell um die Ecke bog und einige sich darauf nicht mehr halten konnten. Dass sie später zu einer meiner engsten Vertrauten werden würde, konnte ich bei unseren ersten Treffen nicht ahnen – aber ich wäre auch nicht überrascht gewesen.
Steffi war ein Beispiel für einen sehr nahen persönlichen Kontakt. Schon vor unserer ersten Begegnung hatte ich damit begonnen, mir langsam, konsequent-beharrlich ein umfassendes Netzwerk aufzubauen und es zu bespielen. Ich saß im vierten Stock, alleine, in einer Art Elfenbeinturm. In einer Revolutionszelle sozusagen. Ausgestattet mit Tisch und Regiestuhl, aufgestellt an einem verschwiegenen Plätzchen, von dem aus ich meine Fäden spinnen konnte. Alles im Blick, vieles im Griff. Und so wurde nach und nach aus dem netten Christian eine echte Hausmacht mit besten Beziehungen zu den
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