"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
überleben. Noch dazu hatte er jedes Angebot abgelehnt, in die Klinik gebracht zu werden. Er fuhr also alleine mit seinem Auto die lange Strecke, schwach, wie er war. Es war eine harte Nacht, ein langer Vormittag für mich, bis endlich der erlösende Anruf kam, dass er gut angekommen war. Ich kann meine Erleichterung gar nicht beschreiben, die sich erst einmal durch ein Meer von Tränen Bahn brach. Ich hatte wieder Hoffnung, und ich klammerte mich an jeden Strohhalm.
Christians Klinikaufenthalt änderte etwas in mir. Ich wurde ruhiger, die bohrende Angst wich zurück. Es war, als wäre eine Last von meinen Schultern genommen. Es war trügerisch, sich in irgendeiner Sicherheit zu wiegen, aber ich konnte durchatmen und hoffen, dass die ausgebildeten Fachleute das Richtige tun würden. Doch ich merkte schnell, dass ich entweder die Fachleute über- oder die Anorexia unterschätzt hatte.
Als ich Christian Mitte Juni aus Prien abholte, bereitete er mich schon darauf vor, dass er kaum zugenommen hatte. Er holte mich am Bahnhof ab und wirkte ganz anders als vor dem Klinikaufenthalt. Er war viel vitaler, seine Augen hatten wieder mehr Glanz, er sprach wieder mit kräftigerer Stimme – und er ging wieder in normalem Tempo. Er wirkte insgesamt stabiler. Es war mir ein Rätsel. Er hatte sein Essverhalten in Prien geändert und damit leicht verbessert. Ich bin für kleine Schritte sehr dankbar, weil ich weiß, dass sie für magersüchtige Menschen sehr groß sind. Christian hatte sich auch zum Experten seiner Krankheit gemacht, dort in der Klinik. In jeder Beziehung. Und nun ging es zurück, und keinerlei Nachsorge greift für diese Kranken, denen in der Klinik alles abgenommen wurde und die in keiner Weise auf das Leben danach, den Alltag, vorbereitet wurden. Aber – und das zählte für mich erst einmal – sein Zustand hatte sich deutlich verbessert, er schien stabil zu sein.
Erneut stürzte sich Christian in seine Arbeit, er hielt das Level, das er aus Prien mitgebracht hatte, jedenfalls schien es mir so. Und er hatte eine andere Therapeutin hier vor Ort. Sie ist die Richtige für ihn, findet den richtigen Ton, ist klug und empathisch. Ich bin sehr froh, dass er sie gefunden hat.
Ich will ihn nicht verlieren. Ich möchte so sehr, dass es ihm gut geht und er seine innere Ruhe findet, dass er Kraft schöpfen kann und wieder ein wenig so wird, wie er einmal war. Christian ist neben meinen Kindern einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Er ist in meinem Herzen, für immer. Er ist mein innigster Freund, bewohnt von (m)einem Feind, einer Krankheit namens Anorexia, die ich gerne vertreiben oder doch zumindest in ihre Schranken weisen möchte. Aber das kann ich nicht, so gerne ich das auch möchte. Das kann nur Christian selbst. Ich kann ihn dabei lediglich ein wenig unterstützen, und diese harte Tatsache einzusehen und zu akzeptieren ist sehr schwer. Das ist die Herausforderung, so fühle ich, die das Leben mir derzeit stellt.
Können Sie sich vorstellen, dass ich Rotz und Wasser geheult habe, dass ich immer wieder heule, wenn ich diese Zeilen lese? Welch wunderbare Menschen nehmen diese Lasten, diese Mühsal und diese Ängste auf sich, um einem wie mir zu helfen? Einem Verirrten, der sich aus mehr oder weniger eigenem Entschluss in einer überversorgten Wohlstandsgesellschaft fast zu Tode hungert? Was würde ich nur ohne ihre Hilfe machen?
Ich fühle mich so mies.
Ich bin zu einer Art Pflegefall geworden – und schaue dabei zu. Ach was: Ich wirke aktiv daran mit, indem ich weiter nur Magerquark und Brokkoli-, nein Blumenkohl-Bröckchen – weniger Kalorien –, esse.
Das muss einfach anders werden.
Auch meine selbst gewählte Festungshaft muss aufhören. Alleine essen macht dick, heißt es immer. So ein Quatsch. Nichts hat mir mein Verhungern leichter gemacht als diese permanente Isolation, mein Abkapseln von der Welt. Soziale Kontrolle klingt so furchtbar – aber ohne die soziale Kontrolle durch Freunde wie Steffi oder meine Schwester und meinen Schwager, ohne das Wissen um Denni wäre ich jetzt wahrscheinlich tot, und das ist wirklich fürchterlich.
Also was tue ich? Lade ich alle ein, die es ernst mit mir meinen? Rufe ihnen zu: Kommet und sehet, ich will genesen! Lasst uns doch mal zusammen etwas essen gehen …
Nein, das geht noch nicht.
Aber das ist – in weiter Ferne – mein Ziel. Unter Leuten sein, das Leben genießen. Und auch wieder das Essen …
Futtern wie bei Muttern
Wie die Sache mit
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