"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
Mutter hochkocht
Alles war in Bewegung geraten, seitdem Vater tot war. Fast alles. Allein die digitale Anzeige auf meiner schicken neuen Glasbodenwaage schien festgefroren. Aber sie funktionierte, denn selbstredend war auch sie der letzte Schrei, frisch bestellt im Internet, geliefert frei Haus von einem der wenigen sozialen Kontakte, die ich pflegte: dem DHL -Paketmann. Fast täglich begegneten wir uns im Treppenhaus, wechselten einige Worte und waren beide zufrieden damit.
Meine neue Waage maß alles, was es so zu messen gab an nackten Körpern im heimischen Badezimmern: Bio-Impedanz, Körperfett, Körperwasser, Muskelmasse – und je nach Funktion hatte sie mal mehr, meist weniger zu tun. Ein paarmal stellte ich mich darauf, dann ließ ich es wieder sein. Die Waage machte alles nur schlimmer statt besser. Was nutzte es mir zu wissen, dass ich zu- oder abgenommen hatte? Alles löste irgendetwas aus. So wie diese Ernährungstipps, die ich nahezu minütlich irgendwo aufschnappte und verdauen musste. Ich hielt sie für albern und ärgerlich, ertappte mich aber dabei, dass sie immer irgendwie Eingang fanden in meinen Essensplan: Meist dergestalt, dass wieder etwas vom Speiseplan gestrichen wurde. Karotten zum Beispiel oder Erbsen. Ganz klar, die Waage musste weg, mir aus den Augen, aus dem Sinn. Also ließ ich das schicke Teil bald im Waschbecken-Unterschrank verschwinden. Auf dass ich ihren Anblick nicht ertragen musste, legte ich auch noch Handtücher drauf.
Ich machte mir mittlerweile mehr Gedanken über mein eigenes Leben – vor allem darüber, dass es tatsächlich in Gefahr war. Ich hatte ja sonst immer nur verständnislos den Kopf geschüttelt, wenn die Leute ob meines Zustandes um mich herum in flatternde Panik gerieten. »Schau, wie du aussiehst!«; »Du musst mehr essen!«; »Du musst zunehmen!«; »Du bist in Lebensgefahr!!!« So ein Blödsinn, hatte ich immer gedacht und manchmal auch gesagt. »Daran stirbt mer doch net.«
Nicht einmal damals, als mein Schwager kurz vor Weihnachten 2009 diese Horror-Blutwerte vorgelesen hatte, berührte mich das irgendwie. Auch sein eindringliches Auf-mich-Einreden hatte nicht wirklich etwas in mir bewirkt. Im Gegenteil. Er weckte in mir wahre Abwehrkräfte. Alles war: Jaja, red’ du nur. Ich ging damals schließlich nur in die Klinik, damit diese ganze Panikmache aufhörte und ich endlich wieder meine Ruhe hätte. Alle Menschen um mich herum trugen stellvertretend für mich meine Todesangst aus – und ich ertrug es gerade so, stoisch und genervt. Manchmal fühlte ich mich gar geschmeichelt. Ich war dünn, sehr dünn, das sagten sie jedenfalls. Und immer war ich irgendwie Thema.
Aber als ich mich nach völlig absurd-aktionistischen Untersuchungen wie zum Beispiel einem Hör- und Sehtest zur Besichtigung meiner Innereien in den Klinik-Keller schleppte, war Schluss mit lustig. Der Witz, die absolute Ironie war, dass bis dahin kein Wert, keine Prognose, kein Bild, kein Szenario meinen Puls auch nur einen Schlag hatte nach oben treiben können. Bis zu diesem Kellertreffen mit dem Chefarzt. Ich hatte ihn bis dahin noch nicht zu Gesicht bekommen, und auch diesmal war er eher eine Stimme aus dem Halbdunkel. Eine Stationsärztin steuerte die Sonografie, und was sie bis dahin erzählte, langweilte mich wieder einmal zu Tode: Dass ich zu dünn sei, viele Wasserablagerungen, ein Ödem hier, da ein anderes. Aber was war das? Auftritt, Chefarzt: »Stopp! Da, der dunkle Fleck auf der Leber, könnte ein Tumor sein. Halten Sie das mal fest. Melden Sie ihn zum CT an …« Er flüsterte seine Pi-mal-Daumen-Prognose so laut, dass ich es gar nicht überhören konnte. Der absolute Schock!
Die Computertomografie sollte also unmittelbar Klarheit bringen. Doch die Röhre war ausgebucht. Es war ein Freitagmorgen, und so fuhren meine Gedanken ein Wochenende lang Achterbahn. Meinen Schlaf war ich seit Jahren los, jetzt aber lag ich nicht einmal mehr gleichgültig wach.
»Leberkrebs!«, schrie und zischte es abwechselnd tagelang in meinem Kopf. »Du wirst sterben!« Ich googelte um mein Leben. Neben vielem anderen unverständlichen medizinischen Zeugs stand da etwas, das ich sehr gut verstand und sich bei mir ins Hirn fraß: »Die mittlere Lebenserwartung beträgt, von der Diagnosestellung aus gerechnet, meist weniger als acht Monate.« Plötzlich war mein Schwager für mich die personifizierte Beruhigungspille. Aus seiner Sicht war diese dahergenuschelte Diagnose abwegig. Aber irgendwann
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