"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)
irrt vielleicht ja auch mal er.
Verrückt, oder?
Seit Wochen hatte ich aus medizinischer Sicht den nahen Tod direkt vor Augen, wenn ich nur in den Spiegel sah. Aber das beeindruckte mich nicht. Wenn jedoch irgendein Arzt ganz nebenbei den vagen Verdacht über einen vielleicht, eventuell, möglicherweise, unter Umständen vorhandenen kleinen Schatten einer Metastase äußerte, ängstigte ich mich selbst zu Tode.
Ich überlebte den Schreck. Den angeblichen Tumor gab es nicht.
Es war damals auch die Zeit, in der ich viel an meinen Vater dachte, an sein erfülltes Leben, sein langes schweres Leiden – und ich dachte viel an seine Sorge um mich. Ich fühlte mich seiner Zuversicht verpflichtet. Er war der Meinung gewesen, ich sei nun auf dem Weg der Besserung, und ich wollte diese seine – vielleicht letzte? – Hoffnung nicht enttäuschen. Vor allem wollte ich sie teilen. Ich wollte auch diese Hoffnung haben, wollte, dass sie mich mit Leben erfüllt. Dass sie nicht nur den Wunsch zu überleben in mir weckte, sondern tatsächlich die Lust auf Leben erwachen ließ, auf eines mit all seinen Freuden, Gelüsten und Genüssen, seinen Steaks, Filets, Salaten, Sushi und Putenbruststreifen, all seinen Bratwürsten, Burgern und Pommes frites, den Cocktails und guten Weinen, den 3-, 4- und 5-Gänge-Menüs.
So weit und so konkret waren meine Vorstellungen und Pläne damals natürlich noch nicht. Aber ich näherte mich wieder etwas an, das man grob mit dem Begriff »Leben« umschreiben könnte.
In diesem Leben gab es nun natürlich noch weitere Trauer tragende Personen, zuvorderst meine Mutter. Ich wollte für sie da sein und war es nun mehr denn je. Zunächst ist es eine Selbstverständlichkeit, für die Mutter da zu sein, wenn der Vater stirbt. Es wurde aber bald immer mehr. Nach Vaters Tod war ich nun ihr »Mann im Haus«, auch wenn ich dort gar nicht wohnte. Sie hatte ganz klare, wenn auch nicht immer ganz klar vorgetragene Vorstellungen davon, wie ich sie unterstützen könnte. Ich, der Magerquark-Invalide. Diese Vorstellung lässt sich schnell zusammenfassen: Ich machte für sie den Rundumversorger. Betreuungsdienst, Einkaufsdienst, Fahrdienst, Mal-eben-vorbeikomm-Dienst, Christian vom Dienst.
Ich weiß, was Sie jetzt sagen oder denken – schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Ich konnte dazu nicht einfach »Nein« sagen. Und das lag nicht nur daran, dass das meine arme, alte, gramgebeugte Mutter war, der gerade der liebende Ehemann weggestorben war. Das lag vor allem daran, dass das meine Mutter war. Es war so eine Art schwarze Magie. Sie hatte mich an unsichtbaren Fäden, die mich nicht koordinierten, aber lenkten – immer wieder in ihre Richtung. Was immer sie auch sagte, es löste in mir immer irgendetwas aus. Mein ganzes Leben lang. Renitenz, offene Konfrontation, selten nur kommentarlose Zustimmung. Aber immer wieder die reumütige Rückkehr in die Arme der Frau Mama. Denn wenn ich auf den Zug am Faden mal nicht sofort reagierte, tat sie das, von dem sie wusste, dass es am meisten wehtat: Sie ließ den Faden kurz ganz locker. Dabei sagte sie: »Na, gut.« Oder: »Vielen Dank!« Und das mit einer Stimme, deren Tonlage changierte zwischen empört, beleidigt, enttäuscht. Mir war klar: Du funktionierst nicht mehr, du hast die schlimmste Todsünde der Welt begangen. Du hast deine Mutter im Stich gelassen. Nach all dem, was sie für dich getan hat …
Ich interpretierte es so. Immer. Die Masche zog. Immer. Es zerrte an mir. Unaufhörlich.
Sie hätte die Fäden gar nicht mehr aufheben müssen. Ich hing längst ganz von alleine daran und in der Luft, war ihr ausgeliefert. Im Nachhinein, aus der zeitlichen Distanz, erschreckt mich bei alledem aber vor allem ihre Ignoranz gegenüber meiner Krankheit, gegenüber dem Leid ihres eigenen Kindes. Wissen Sie, was ihr Rezept gegen die Magersucht war? Es erfüllt mich – und wahrscheinlich auch andere Magersüchtige, die mit solcher Ignoranz konfrontiert sind – mit Trauer und Schrecken. Also, was sagte sie, wenn ich wagte zu erwähnen, wie schlecht es mir geht?
Sie sagte: »Dann iss halt was!«
Das war alles. Ich solle eben einfach öfter mal »ein Brötchen essen«. Dann würde schon wieder alles gut. Diese gewollte Blindheit gegenüber meinem Zustand fraß an meinen Nerven.
Natürlich ging es auch ihr schlecht. Natürlich verlor sie den Halt, eine Perspektive. Noch vor wenigen Tagen unternehmungslustig, stets organisiert, fidel und ständig im Dienst für andere
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