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"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

"Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition)

Titel: "Dann iss halt was!": Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Frommert , Jens Clasen
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Frankfurt nach Sydney fliegen. Ich konnte es kaum glauben. Es regte sich tatsächlich so etwas wie ein Funke Lebensfreude. Ich war von mir selbst begeistert, dass ich das tat. Ich war von meiner Mutter begeistert, dass sie es auch tat. Ich war stolz auf sie. Und natürlich erzählte ich es ihr sogleich. Ihre Reaktion war in etwa die gleiche, als hätte ich einen langwierigen Zahnarzttermin für sie vereinbart. Sie freute sich kein bisschen. Sie ließ geschehen und nahm hin. Keine Vorfreude, keine Empathie. Ich hatte eher den Eindruck, sie schrak vor der Sache zurück – oder sie erschrak davor, dass ich diese Tortur überhaupt angeleiert hatte. Sie zögerte, wollte das erst in Ruhe überlegen, wollte sehen, ob sie da nicht doch einen Termin hatte. Das hatten wir doch alles längst geklärt! Ja, sagte sie plötzlich, in der Zeit sei doch die Faschingsfeier ihres Jahrgangs. Zu diesem Treffen ging sie nicht nur regelmäßig und mit großer Begeisterung. Ohne sie würde es diese Veranstaltung erst gar nicht geben. Sie war Initiatorin, Organisatorin, Regisseurin, Darstellerin und Produzentin von A wie Aufbau bis A wie Abbau. Ihr Leben drehte sich nur noch um diese Veranstaltung und meins dann auch. Ich brauche eine Rede, eine Idee, einen Vortrag, eine Einladung, einen Gitarristen, einen Artikeldrüberschreiber. Ich war ob ihres Engagements, ihres selbstlosen Einsatzes gleichermaßen genervt wie begeistert. Manchmal machte er mich auch wütend. Dieses gottverdammte Pflichtbewusstsein, dieses Fünfe-nie-gerade-sein-lassen-Können, diese dauerhafte Abstinenz von dem, was man Gelassenheit nennt, all das ließ mich nämlich in einen Spiegel sehen. Ich war doch genauso.
    In diesem Jahr aber war an ein Mitwirken beim Altweiber- und Männer-Fasching nicht zu denken. Gott bewahre! Denn wie es sich gehört, trauert man in diesen Kreisen und in diesem Alter ausdauernd, intensiv und plakativ schwarz. Auf dass nach außen dokumentiert wird, wie es drinnen aussieht. An Humor war ohnehin nicht zu denken, Lachen verboten. Der Gedanke, an einer Fastnachtsveranstaltung teilzunehmen, war für meine Mutter also weit abwegiger als zum Beispiel die Idee, mit 80 Jahren ans andere Ende der Welt zu fliegen. Doch am Ende ging es gar nicht um die Veranstaltung, sondern um die Vorbereitung selbiger: Der Kaffeetisch musste gedeckt werden. Das dauerte nicht allzu lange. Aber irgendjemand musste es ja machen. Irgendjemand, das war meine Mutter. Immer. Ja, Sie lesen richtig: Die Australienreise stand auf der Kippe, weil meine Mutter die Kaffee-und-Kuchen-Tafel für ihre Schulkameradinnen und Schulkameraden decken musste. Natürlich hätte auch niemand anderer Tassen und Tellerchen, Löffel und Gabeln auf diesen Tischen platzieren können. Eine Arbeit von ein paar Minuten, die eine Abreise in weite Ferne rückte.
    Es galt Prioritäten zu setzen. Vielleicht war es auch eine Art Reflex, ein günstiger Vorwand, um Zeit zu schinden, eine Galgenfrist herauszuschlagen. Vielleicht ahnte sie ja schon, was da auf uns zukommen sollte. Auf alle Fälle wäre es ein Zeichen von Schwäche gewesen, diesen Tisch in diesem Jahr nicht zu decken. Ein Versagen, ein nichtgehaltenes Versprechen, und noch schlimmer: Es bedeutete, jemand anderen bitten zu müssen, einzuspringen, zu helfen. Das war striktes Verbot. Wenn jemand half, dann meine Mutter. Niemand anderer. Nie. Sie kehrte der Nachbarn Straße, mähte Rasen von Leuten, die zwanzig Jahre jünger waren, ob sie sich gut fühlte oder nicht so gut. Frau Frommert funktionierte immer. Bei jedem Wetter. Weil sie es zugesagt hatte, weil sie verlässlich war, weil sie es als ihre Pflicht ansah. Weil sie nicht herauskonnte aus ihrer Haut. Weil sie dachte, dass man es von ihr erwartete, weil sie nicht unterscheiden konnte zwischen helfen und sich ausnutzen zu lassen.
    Ach, das erinnert Sie an jemanden?
    Und nun? Was also sollte werden aus Australien? Ich schrieb eine Mail an Frau Orszulka, in der ich erklären musste, warum ich einerseits komplett begeistert von ihrer Arbeit und von dem Gedanken an die Reise war, diese aber trotzdem noch nicht zusagen könne – und das, ohne meine Mutter anzuschwärzen. Frau Orszulka reagierte geduldig, freundlich und wie immer gelassen, weil kompetent. Sie hatte alles im Griff, ich nicht. Sie wartete, ich wartete. Manchmal hatte ich das Gefühl, meine Mutter wartete auch – aber worauf? Auf eine göttliche Eingebung? Sie entschied sich nicht – weder dafür noch dagegen. Weiß der Himmel,

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