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Dann mach ich eben Schluss

Dann mach ich eben Schluss

Titel: Dann mach ich eben Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Fehér
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Karopapier. Als die erste Stunde um ist, habe ich die erste Aufgabe halb gelöst und die zweite begonnen, ehe ich ins Stocken komme. Insgeheim hoffe ich, eine andere Lehrkraft würde vielleicht kommen und Bollschweiler ablösen, etwa Frau Melberg oder Herr Brückner. Herr Brückner! Aufsicht zu führen ist nicht so anstrengend wie unterrichten, das könnte er machen, auf diese Art würden wir uns wenigstens noch einmal sehen, vielleicht würde es meine Arbeit beflügeln. Bollschweiler jedoch bleibt. Die volle Klausurzeit über macht er uns wahnsinnig mit seinen langsamen, gemessenen Schritten, mit denen er den Raum durchwandert, sich wieder ans Lehrerpult setzt, erneut durch den Raum streift. Ab und zu blicke ich mich um und beobachte die anderen aus dem Kurs: Paul, der so konzentriert schreibt, dass er kein einziges Mal aufblickt und glatt vergisst, etwas zu sich zu nehmen. Marie-Luise, die sich immer wieder Tee aus einer Thermoskanne einschenkt. Philine, die still und blass nur alle paar Minuten etwas notiert. Simon und Justus, die ab und zu aufstöhnen und sichtlich Schwierigkeiten mit den Aufgaben haben.
    Nach zwei Stunden weiß ich, dass ich nicht mehr weiterkomme. Ich tue so, als ob ich schreibe, doch stattdessen zeichne ich Bollschweiler auf meine Karos, fange seinen aufgeblasenen, verächtlichen Gesichtsausdruck ein, seine Fischlippen, seine blassen Augen, das hochgereckte Kinn, mit dem er unbewusst seine geringe Körpergröße zu überspielen sucht. Es ist das beste Porträt, das ich je gezeichnet habe, zusammen mit dem Bild von meinem Vater. Kurz entschlossen falte ich meine Blätter vorschriftsgemäß zusammen, lege sie in einen Aktendeckel und gehe nach vorn, um sie ihm auszuhändigen. Meinen Rucksack habe ich bereits umgehängt. Bollschweiler blickt auf. Anders als andere Lehrer hat er diese Stunden, in denen er Aufsicht führen musste, nicht genutzt um Arbeiten zu korrigieren, sondern uns wirklich die ganze Zeit beobachtet.
    Â»Schon fertig, Herr Rothe?«
    Dieser kalte Blick. Diese Wasserpupillen, denen jede Wärme fehlt. Ich nicke. Natürlich versucht er nicht, mich dazu zu überreden, meine Klausur noch einmal durchzusehen, auf Fehler zu überprüfen. Es interessiert ihn nicht. Und was ich von ihm halte, wird er sehen, sobald er glaubt, er werde jetzt meine Klausur korrigieren. Bollschweiler wird in den Spiegel schauen.
    Â»Ich habe getan, was ich kann«, antworte ich, leise, um die anderen nicht zu stören, die noch schreiben. Er weiß nicht, dass ich damit das Zeichnen meine. Das kann ich, er wird es sehen. Stirnrunzelnd nimmt er meine Klausur entgegen, legt sie aber gleich auf den Tisch, statt hineinzusehen. Ich verabschiede mich nicht von ihm. Was sollte ich auch sagen? Auf Wiedersehen?
    Zu Hause zeichne ich mich selbst in mein Skizzenbuch. Mein Selbstporträt misslingt, ich radiere darauf herum, was alles nur noch schlimmer macht. Ich sehe noch unauffälliger, noch nichtssagender aus als in Wirklichkeit. Das Einzige, was perfekt geworden ist, ist die Ähnlichkeit mit meinem realen Gesicht. Max, unverkennbar, so wie mir jeden Tag mein Spiegelbild entgegenblickt, erloschene Augen, fahle Gesichtshaut mit zu vielen Pickeln, strähniges Haar ohne Schnitt, ausdrucksloser Mund. Aber ich mag das Bild nicht. So viel ich auch zu verbessern versuche, es wird nur schlimmer, ich mag es nicht, mag mich nicht. Beim Heraustrennen zerreißt das Blatt. Ich knülle die abgetrennte Hälfte zu einer Papierkugel zusammen und pfeffere sie in den Papierkorb. Volltreffer. Ich kann nicht mal mehr zeichnen, nicht einmal das, was immer das Einzige war, worin ich allen überlegen war. Ich kann nicht rechnen und keine Geometrieaufgaben lösen, bin keine Sportskanone und auch sonst niemandem wegen herausragender Leistungen im Gedächtnis geblieben. Nicht einmal am Klavier bin ich überdurchschnittlich gut. Im Grunde kann ich nicht einmal lieben, bin nicht imstande, ein Mädchen zu halten. Delia ist gegangen, mit Annika war es nie das, was sich jeder von uns erträumt hat. Und jetzt nicht einmal mehr das Zeichnen. Ich spüre, wie diese Wut in mir wieder zu brodeln beginnt, kochendes Blut steigt in mir auf, ich kralle meine Finger in die Handflächen, bis es wehtut, dann löse ich sie und packe erneut das Skizzenbuch, knicke es in der Mitte und schleudere es durch mein Zimmer, ich weiß nicht, wo es landet, ich glaube in der

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