Dann mach ich eben Schluss
»Bildchen« handelt, wie er Maximilians Zeichnungen immer wieder abfällig tituliert hat. Die jungen Menschen, die hier ausstellen, sind allesamt begabt und gründlich, daran besteht nicht der geringste Zweifel. Matthias spürt schmerzlich, wie gern er neben einer dieser Arbeiten den Namen seines Sohnes lesen würde. Maximilian Rothe als Erschaffer eines Porträts, einer Grafik, einer Skulptur. Hier gehört sein Name hin, nicht auf den Grabstein, den sie vor wenigen Tagen beim Steinmetz in Auftrag gegeben haben.
Matthias hat Maxâ Zeichnung von sich mitgenommen und rollt sie auseinander, betrachtet sie noch einmal lange, hält sie neben ein anderes Bleistiftporträt, das gerahmt an der Wand zum Treppenaufgang hängt. Er erkennt gleich, dass Maximilians Zeichnung gekonnter ist, sein Sohn hatte eine genauere Beobachtungsgabe, hat mehr Facetten des Charakters eingefangen als die junge Zeichnerin hier, die offenbar ihre beste Freundin dargestellt hat, ohne sie wirklich zu kennen.
Es quält mich, Abend für Abend zu Hause am Tisch zu sitzen und deinen leeren Stuhl zu sehen, sagt er stumm zu seinem Sohn. Du hättest nicht gehen dürfen, Max, uns nicht so verlassen. Was für eine Wut muss in dir gebrodelt haben, dass du das getan hast; Wut auf uns, sicher vor allem auf mich. Du zeigst es mir in diesem Bild, das nicht nur über mich so viel aussagt, sondern auch von dir erzählt, viel mehr, als du jemals mit Worten gesagt hast. Ich danke dir für das Bild, Max, und ich schäme mich auch, weil ich nicht eher hingesehen und erkannt habe, was für eine Begabung in dir steckt. Ich weià es, eigentlich habe ich es die ganze Zeit gewusst, aber ich habe den Fehler gemacht, es dir nicht zu zeigen. Habe alles heruntergespielt, dich sogar lächerlich gemacht. Soeben habe ich Corinna und Natalie erzählt, warum ich so zu dir war, wie ich war, aber ich hätte es zuerst und vor allem dir erzählen sollen. Die Gelegenheit suchen, ein ehrliches, tiefes Gespräch mit dir anzufangen, statt dich immerfort zu gängeln und zu bevormunden.
WeiÃt du noch, als wir im Frühling zusammen Joggen gegangen sind? Da zum Beispiel. Es wäre ein Leichtes gewesen, uns im lockeren Trab einmal auszusprechen, gewiss hättest du mich verstanden. Du warst so viel gröÃer als ich im Zuhören. Du konntest es gut, während ich immer ungeduldig wurde, zu fest an meinem eigenen Standpunkt festhielt und keinen anderen gelten lieÃ.
Wir hätten zusammen lachen können, Max. Ãber Boris, über Paul. Du hast es gar nicht nötig, mit ihm unentwegt zu wetteifern, ihr seid so unterschiedliche Typen. Seine Eltern bekommen Schmerzensgeld von unserer Versicherung, es steht ihnen zu, und ich konnte sehen, wie es im Hirn des Vaters gerattert hat, weil er überlegte, wofür Paul es verwenden kann, wenn er erst wieder auf den Beinen ist. Ein paar Tausender in die Karriere stecken, in spezielle Kurse oder was auch immer. Wir hätten einfach darüber lachen sollen und dann hätte ich dich zu deiner neuen Schule begleitet. Du hättest ein Jahr wiederholt, ein Jahr, nach dem später niemand mehr fragt. Was ist schon ein Jahr gegen das ganze Leben, das du verloren hast, weil ich zu wenig Interesse an dem Max gezeigt habe, der du wirklich warst? Ich habe dir dieses Jahr nicht gegönnt, dir deine Träume nicht gegönnt. Jetzt träumst du nicht mehr. Nur uns bleibt es noch, von dir zu träumen, von der Zeit, die wir mit dir hatten und den Jahren, den vielen, vielen Jahren, die wir noch hätten haben können, haben sollen.
Für dich muss es immer so ausgesehen haben, als ob ich dich nicht lieb hatte. Auch das verrät deine Zeichnung. Ich habe dich geliebt, Max, aber ich habe es dir auf die falsche Art gezeigt, nämlich so, dass du meine Liebe nicht erkennen konntest. Was würde ich darum geben, wenn ich die Zeit zurückdrehen und dir alles erklären könnte, alles Schlimme, was ich dir und damit auch deiner Mutter und deiner Schwester angetan habe, ungeschehen machen! Ich habe Angst, daran zu zerbrechen, Max. An meiner Schuld und daran, dass ich dich nie mehr in die Arme schlieÃen kann. Viel zu selten habe ich dich in die Arme geschlossen, mein Sohn.
Wenn ich nur wüsste, wie es dort ist, wo du jetzt bist. Ob es ein Wiedersehen gibt, wenn die Tage hier auf der Erde, die Tage ohne dich, zu Ende sind. Ich wünsche es mir so.
Ich trag dich sicher
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