Dann mach ich eben Schluss
riskiert.
Ohne seine Sturheit und die Borniertheit, über Max zu kompensieren, was er selber verbockt hat, würde mein Junge noch leben. Aber wenn ich gehe, bricht alles zusammen.
Matthias richtet sich wieder auf, grau im Gesicht.
»Ich habe ihn totgefördert«, sagt er. »Dabei war er doch toll, so wie er war.« Bei diesen Worten blickt er auf die Zeichnung auf seinem SchoÃ.
Natalie dreht sich um.
»Herzlichen Glückwunsch zu dieser Einsicht«, sagt sie und verlässt das Zimmer.
9.
»Maxâ Zimmer«, beginnt Corinna Wochen später beim Frühstück. Noch beflissener als sonst blickt sie zwischen Matthias, Natalie und dem gedeckten Tisch hin und her, sieht nach, ob auch jeder hat, was er braucht. »Wenn die Idee mit dem Austauschschüler oder Studenten noch kein Gesetz ist, hätte ich auch einen Gedanken dazu.«
Matthias hebt die Augenbrauen, Natalie löffelt ihre Cornflakes weiter und richtet den Blick auf ihre Mutter.
»Ich muss trotz allem mein Sachbuchmanuskript irgendwann fertigstellen«, verkündet Corinna. »Nach Maxâ Tod hat mir der Verlag natürlich Aufschub gegeben, aber ich will ja selbst, dass es spätestens nächstes Jahr erscheint. Und wenn es ein Erfolg wird, könnte ich mir vorstellen, noch weitere naturheilkundliche Werke zu verfassen. Wenn ich mir Maxâ Zimmer dafür einrichten könnte, als kleines Refugium zum Schreiben ⦠ich glaube, es würde mir helfen, wenn ich bei der Arbeit das Gefühl hätte, ihm ganz nah zu sein.«
Natalie verdreht die Augen. »Noch mehr Kräutergesäusel«, stöhnt sie. »Aber ich fändâs super, wenn du endlich was eigenes hast, Mama.«
»Du hast noch nichts gesagt, Papa«, stellt Natalie fest. Auch Corinna sieht ihn erwartungsvoll an. Matthias stellt seine Kaffeetasse ab.
»Eigentlich gefällt mir der Gedanke nicht«, meint er. »Max ist noch nicht lange tot, und es tut immer noch so weh. Ich kann mich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass er ⦠nie mehr mit uns zusammen hier am Tisch sitzen und essen wird. Wenn wir sein Zimmer jetzt schon â¦.« Er versucht, das Zittern seines Kinns zu unterdrücken.
»Es muss nicht gleich sein«, versucht Corinna ihn zu beruhigen. »Und wenn es dir gar nicht behagt, schreibe ich eben im Wohnzimmer weiter..«
Schweigend setzen sie ihre Mahlzeit fort.
»Nein«, betont Matthias plötzlich entschlossen, tupft sich die Lippen mit der Serviette ab und strafft seine Brust. »Ich habe schon einmal den Fehler gemacht, einem Familienmitglied bei seinen Träumen im Weg zu stehen. Diesen Fehler mache ich nicht noch einmal. Du wirst in Maxâ Zimmer deine Schreibstube einrichten, Liebes. Auf jeden Fall. Wobei die Unterbringung von Austauschschülern natürlich auch eine Option wäre.« Er nickt Natalie zu, dann steht er abrupt auf.
»Wo willst du hin?«, fragt Corinna. »Hast du nicht gesagt, du arbeitest heute von zu Hause aus?«
»Ich weiÃ.« Matthias lockert seine Krawatte. »Was ich vorhabe, ist viel wichtiger als die Arbeit.«
10.
Corinna hat gefragt, ob sie ihn begleiten soll, doch Matthias will allein zu der Schule gehen, die sein Sohn unbedingt besuchen wollte. Als er aus seinem Wagen aussteigt und mit seinen langen, festen Schritten den Vorplatz des Gebäudes durchmisst, trifft ihn der Verlust noch einmal mit aller Wucht. Max sollte hier sein statt auf dem Friedhof zu liegen, sein Körper gehört nicht in die dunkle Erde unter all den prachtvollen Blumen, er gehört ans Licht, ins Leben. Der Sommer kündigt an manchen Abenden schon durch aufsteigenden Nebel sein nahes Ende an, als wolle er Max folgen, doch genauso wie sich der Jahreskreislauf in einem neuen Frühling öffnen wird, müsste auch Max leben. Im kommenden Herbst würde er seine Künstlerlaufbahn hier aufnehmen, würde jeden Morgen auf das Eingangsportal zustreben so wie jetzt er selbst, aber anders als vorher würde Max sich auf jeden neuen Schultag freuen, seine Ideen verwirklichen, mit Eifer an seinen Aufgaben feilen, sich ins Zeug legen. Eine neue Zeit voller Eindrücke und Erfahrungen, und dann â¦
Matthias ist im Schulgebäude angelangt, verharrt schmerzerfüllt, ehe er mit bedächtigen Schritten zu einer der Vitrinen geht, um die darin ausgestellten Schülerarbeiten zu betrachten. Er erkennt augenblicklich, dass es sich hier nicht um
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