Dann mach ich eben Schluss
abbiegen können, mich treiben lassen, träumen, verweilen, wo es mir gefällt, unbekannte StraÃen ausprobieren, mich irren und von vorn beginnen. Fehler machen und selbst entscheiden, was ich daraus lerne. Ich will keine EinbahnstraÃe und keine Sackgasse im Nebel.
Ich will raus.
2.
Meine Mutter kommt mit einem voll beladenen Tablett herein.
»Und, ging es einigermaÃen?«, erkundigt sie sich, wenigstens kann Papa mir jetzt keine Szene mehr machen, für das Abendessen hätte ich ohnehin den Tisch räumen müssen. Nachdem sie das Tablett abgestellt hat, mustert sie mich mit besorgtem Blick, ihr dunkelblonder, mit Strähnchen in verschiedenen Brauntönen aufgepeppter Kurzhaarschnitt liegt etwas wirr, so als ob sie schon lange im Haushalt gewerkelt hat, aber ihre Augen und Lippen sind dezent geschminkt, das macht sie immer, kurz bevor mein Vater von der Arbeit nach Hause kommt. Vergisst sie es, registriert er es mit einer leicht gehobenen Augenbraue, und sie weià sofort Bescheid. Ich zucke mit den Schultern und wende mich ab, will nicht von ihr auch noch genervt werden, es reicht mir, am liebsten würde ich nicht mal mit ihnen essen, sondern einfach abhauen, egal wohin, frei sein, am liebsten schon ausziehen, ich will diese ständige Kontrolle nicht mehr.
»Gar nichts ging«, antwortet mein Vater für mich. »Aber Maximilian und ich haben das geklärt. Es ist mal wieder ein Gespräch mit dem Lehrer fällig. Der hat seinen Beruf offenbar in der Abendschule gelernt, weil es ihm als Dachdecker im Winter zu kalt geworden ist.«
»Das ist ungerecht, Papa«, protestiere ich.
Meine Mutter verteilt die Teller auf unsere vier Plätze, legt das Besteck dazu, akkurat mit der Tischkante abschlieÃend, gefaltete Servietten ragen wie Spitzberge in die Höhe, die Gläser funkeln blank poliert im Schein der weiÃen Kerze, die sie soeben angezündet hat, für Papa und sie bauchige Weingläser; Wassergläser für Natalie und mich. Lieber hätte ich ein Bier.
»Immer wieder der Herr Brückner«, seufzt sie. »Manche Lehrer verstehen einfach nicht mit hochbegabten Schülern umzugehen. Dieses starre Schulsystem ist für einen vielseitig interessierten Jungen wie dich einfach nicht geschaffen, und leider findet man kaum jemals eine Lehrkraft, die das erkennt und entsprechende Anregungen gibt.«
Mein Vater lacht bitter auf.
»Jetzt lass aber mal die Kirche im Dorf, Corinna, ja?«, sagt er. »Sicher ist Maximilian hochbegabt, und sicher ist Brückner ein Trottel. Ich werde bei meinem Gespräch mit ihm auch keinen Hehl daraus machen, was ich von ihm halte. Aber im Moment geht es in erster Linie darum, dass unser Sohn ein lupenreines Einser-Abitur hinlegt. Er geht aufs Gymnasium und nicht auf die Waldorfschule.«
»Das weià ich«, lenkt meine Mutter ein und nimmt das leere Tablett wieder auf. »Trotzdem. Die Anforderungen heutzutage sind sehr hoch, ich möchte in dieser Zeit nicht zur Schule gehen müssen.«
»Unsinn. Sie sind gefallen. Vergleiche nur mal Maximilians Schulbücher mit denen aus meiner Oberstufenzeit, da wirst du dich wundern.«
»Wir müssen den Stoff aber innerhalb von zwölf Jahren drauf haben«, erinnere ich ihn. »Ihr hattet ein Jahr länger Zeit. Du kannst also gar nicht beurteilen, was für ein Stress das ist.«
»Studier du erst mal und werde berufstätig«, kontert mein Vater erneut. »Dann unterhalten wir uns noch einmal über Stress. Ich möchte jetzt gern in Ruhe essen.«
Schweigend helfe ich meiner Mutter, den Tisch fertig zu decken. Der Duft nach frisch gebackenem Brot, der aus der Küche strömt, lockt auch meine Schwester Natalie an, die bis eben noch in ihrem Zimmer Saxofon geübt hat. Natalie spielt ziemlich gut für ihr Alter, sie kann ihr Saxofon klagen oder lachen lassen, je nach Stimmung. Die Band Keep Out , in der sie seit einem knappen Jahr spielt, hat wirklich Glück mit ihr, ebenso das Schulorchester, in dem sie ebenfalls Mitglied ist.
»Schulorchester ist eigentlich was für Angepasste«, hat sie einmal gesagt. »Aber Herr Schindler ist in Ordnung, sonst würde ich da bestimmt nicht hingehen. Vielleicht werde ich mal die fetzigste Saxofonistin der Welt.«
Unwillkürlich muss ich lächeln, als ich sehe, wie Papa bei ihrem Anblick seine Gesichtszüge strafft. Meine Schwester trägt dunkelblaue Jeans mit
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