Dann mach ich eben Schluss
Richtung zu lenken, versucht seine Wünsche zu erkennen, noch ehe er sie ausgesprochen hat, reicht ihm unentwegt Käse, Aufschnitt und Salat, schenkt ihm Wein nach, erkundigt sich, wie sein Tag gelaufen sei. Zwischendurch zwinkert sie Natalie und mir zu, seht ihr, es geht doch mit ihm, es ist alles nicht so schlimm, er meint es nicht böse wenn er euch ein bisschen härter anfasst, euch fordert. Matthias will nur, dass ihr es im Leben zu etwas bringt, er meint es gut mit euch.
Wir bringen diese Mahlzeit irgendwie zu Ende. Natalie und ich werfen uns Blicke zu, lass dir von denen nicht den Abend versauen, sagen ihre Augen. Ich bin froh, dass sie da ist.
Nach dem Essen räumen wir beide den Tisch ab, Mama stellt die Lebensmittel zurück in den Kühlschrank. AnschlieÃend schleiche ich so unauffällig wie möglich ins Bad, innerlich hoffend, dass mein Vater sich inzwischen für seinen Feierabend einrichtet, im Sessel nach der Zeitung greift oder die Tagesthemen einschaltet. Als ich wieder in den Korridor trete, steht er jedoch erneut vor mir, sein Rotweinglas am Stiel hin und her drehend, noch immer in blank geputzten StraÃenschuhen. Mit hoch gezogenen Augenbrauen mustert er mich.
»Hast du Klavier geübt?«, will er wissen. »Du hast doch morgen Nachmittag Stunde.«
»Gleich nach der Schule, ja«, antworte ich, ohne ihn anzusehen, weil es nicht stimmt. Nachmittags habe ich zwar Klavier gespielt, aber nicht die Stücke geübt, die meine Klavierlehrerin, Frau Camplair, mir aufgegeben hat. Wenn keiner von meinen Eltern zuhört, klimpere ich vor mich hin, probiere Songs aus, die mir gefallen, Filmmusik meistens, manchmal lege ich auch einen Boogie hin oder improvisiere, je nach Stimmung.
»Dann lass was hören«, fordert er mich auf und eilt schon voraus, zurück ins Wohnzimmer, wo er unseren Flügel aufklappt und sich in den Sessel setzt, die Beine übereinandergeschlagen, ich muss immer auf die nackte, fast kahle weiÃe Haut starren, die in dieser Haltung zwischen dem Saum seiner eleganten Hose und den feinen schwarzen Socken zum Vorschein kommt. Wie lange ist es her, dass ich meinen Vater in Badehose gesehen habe, braun gebrannt mit Natalie und mir an irgendeinem Strand tobend, ohne pausenlos an Leistungen und Zensuren zu denken?
»Dein Notenheft«, sagt er und deutet mit vorgestrecktem Kinn auf die leere Halterung über der Klaviatur. »Ich warte.«
»Eigentlich wollte ich Annika noch anrufen«, entgegne ich. »Durch das viele Lernen hatte ich heute keine Zeit für sie.«
Meine Freundin schätzt er, deshalb hoffe ich, dass er mich gehen lässt. Tatsächlich erhellt sich seine Miene für einen Augenblick, wobei ich nicht weiÃ, ob es deswegen ist, weil ich das Lernen einem freien Nachmittag mit ihr vorgezogen habe oder einfach nur, weil er ihren Namen hört. Dann jedoch wirft er einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Schon nach zehn«, stellt er fest. »Um diese Zeit ruft man nirgends mehr an. Das lass dir zum guten Ton gesagt sein, Sohn.«
»Wenn Anrufen nicht geht, geht Klavierspielen auch nicht«, wirft Natalie ein, bereits mit der Klinke der Badezimmertür in der Hand. »Das hört man doch auch durchs ganze Haus.«
»Wir haben spät gegessen«, erinnert meine Mutter beinahe entschuldigend. »Vielleicht solltet ihr wirklich Feierabend machen. Morgen müssen ja alle wieder früh raus, und man schläft schlechter, wenn man bis kurz vor dem Zubettgehen noch arbeitet.«
»Na ja, arbeiten .« Mein Vater runzelt die Stirn. »Soweit ich weiÃ, ist das Klavierspiel Maximilians Hobby, das er sich selber ausgesucht hat.«
Ausgesucht. Natürlich habe ich es mir ausgesucht, vor zehn Jahren ungefähr, in der zweiten Klasse, einem Alter, in dem Kinder alles Mögliche ausprobieren wollen und längst nicht überall auch wirklich dranbleiben. Tamina, ein Mädchen aus meiner Klasse, bei der ich mich nur noch an ihre endlos langen, dünnen geflochtenen Zöpfe erinnere, hatte eines Tages im Musikunterricht der Schule »Für Elise« vorspielen dürfen, und hinterher war ich nach Hause gestürmt, hatte meinen Eltern davon erzählt und schwärmte: »Es hat sich angehört wie auf einer CD! Ich will auch Klavier spielen können!« Also meldeten sie mich zum Unterricht an, doch es dauerte nicht lange, bis ich merkte, dass Schlagzeug oder Bass doch die bessere
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