Danse Macabre
lesen wollte).
Wir untersuchten die tote Katze nach Maden, wobei wir sie
von einer Seite auf die andere drehten - natürlich verwendeten wir einen Stock dazu, man konnte ja unmöglich wissen,
was für Krankheiten man sich an einer toten Katze holen
konnte. Wir konnten keinerlei Maden sehen.
»Vielleicht hat sie Maden im Gehirn«, sagte Charlies Bruder Nicky mit leuchtenden Augen. »Vielleicht hat sie Maden
in sich, die ihr Gehiiiirn auffressen.«
»Das ist unmöglich«, sagte ich. »Gehirne sind irgendwie
luftdicht. Nichts kann reinkommen.«
Das schluckten sie.
Wir standen im Kreis um die tote Katze herum.
Dann sagte Nicky plötzlich: »Ob sie scheißt, wenn wir ihr
‘nen Backstein auf den Popo plumpsen lassen?«
Diese Frage der Biologie nach dem Tode wurde verarbeitet
und genau überdacht. Schließlich kamen wir überein, daß
man die Probe aufs Exempel machen sollte. Wir fanden einen
Backstein. Die Frage wurde aufgeworfen, wer der toten
Katze den Backstein auf den Bauch werfen sollte. Dieses Problem lösten wir auf eine alte, von der Zeit geheiligte Weise:
Wir zählten aus. Das Ene-mene-muh-Ritual wurde begonnen. Einer nach dem anderen war »raus«, bis nur noch Nicky
übrigblieb.
Der Backstein wurde geworfen.
Die tote Katze hat nicht geschissen.
Feststellung Nummer zwei: Wenn du tot bist, wirst du nicht
scheißen, wenn dir jemand einen Backstein auf den Arsch
wirft.
Kurz darauf fingen wir ein Baseballspiel an, und die tote
Katze war vergessen.
Im Lauf der Tage wurde die eingehende Untersuchung der
toten Katze im Rinnstein vor Burrets’ Building Materials
fortgesetzt, und ich muß immer an diese tote Katze denken,
wenn ich Richard Wilburs schönes Gedicht »The Groundhog«
lese. Die Maden stellten sich ein paar Tage später ein, und wir
beobachteten ihr Wuseln mit entsetztem, angeekeltem Interesse. »Sie fressen ihre Augen«, stellte Tommy Erbter aus der
Nachbarschaft heiser fest. »Seht euch das an, Leute, sie fressen sogar ihre Augen. «
Schließlich verzogen die Maden sich wieder, und die tote
Katze sah erheblich dünner aus, ihr Fell hatte eine stumpfe,
uninteressante Farbe angenommen, es war verklebt und zerfressen. Wir kamen nicht mehr so oft hin. Die Verwesung der
toten Katze hatte ein weniger fröhliches Stadium erreicht.
Dennoch wurde es meine Gewohnheit, jeden Morgen auf
dem Schulweg nach der toten Katze zu sehen; es wurde zu
einem festen Halt auf dem Weg, zu einem morgendlichen Ritual - ebenso wie die Bräuche, mit einem Stock über den
Zaun des leerstehenden Hauses zu streichen oder ein paar
flache Steine in den See im Park zu werfen.
Ende September wurde Stratford von den Ausläufern eines
Hurrikans gestreift. Es kam zu einer gelinden Überschwemmung, und als das Wasser nach ein paar Tagen zurückging,
war die tote Katze verschwunden - sie war weggespült worden. Ich kann mich noch gut daran erinnern, und ich denke,
ich werde mich mein ganzes Leben lang daran erinnern können als meine erste intime Erfahrung mit dem Tod. Die Katze
mag von der Landkarte verschwunden sein, aber nicht aus
meinem Herzen.
Komplizierte Filme erfordern komplizierte Reaktionen
vom Publikum - das heißt, sie erfordern, daß wir als Erwachsene auf sie reagieren. Horror-Filme sind nicht kompliziert,
und weil sie das nicht sind, ermöglichen sie es uns, unsere
kindliche Betrachtungsweise des Todes beizubehalten
- vielleicht gar nicht so schlecht. Ich will mich nicht zu der romantischen Vereinfachung herablassen, zu sagen, daß wir die
Dinge als Kinder deutlicher sehen, aber ich möchte andeuten, daß Kinder intensiver sehen. Das Grün des Rasens ist für
kindliche Augen die Farbe vergessener Smaragde, wie H.
Rider Haggard sie in seinem Entwurf von König Salomons
Schatzkammer gesehen hat, das Blau einesWinterhimmels ist
so scharf wie ein Eispickel, das Weiß des Schnees ist ein
traumähnliches Aufflackern von Energie. Und Schwarz ist …
schwärzer. Sogar viel schwärzer.
Dies ist die letzte Wahrheit von Horror-Filmen: Sie lieben
nicht den Tod, wie einige meinen, sie lieben das Leben. Sie
feiern die Deformation nicht, sie verweilen bei der Deformation, sie singen von Gesundheit und Energie. Indem sie uns
das Elend der Verdammten zeigen, helfen sie uns, die kleinen
(aber niemals unbedeutenden) Freuden unseres eigenen Lebens neu zu entdecken. Sie sind die Schröpfköpfe der Psyche,
die nicht Blut saugen, sondern Ängste …, jedenfalls für
kurze Zeit.
Der Horror-Film fragt Sie, ob Sie sich die tote Katze einmal
genau ansehen
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