Danse Macabre
nicht …,
und nicht nur um hineinzusehen, sondern um hindurchgestoßen zu werden. Unwiederbringlich.
14
Baltimore 1980. Die Frau liest ein Buch und wartet darauf, daß
ihr Bus kommt. Der ausgediente Soldat, der sich ihr nähert, ist
ein Vietnam-Veteran und manchmal drogenabhängig. Er hat
eine Krankengeschichte geistiger Probleme, die auf seinen
Wehrdienst zurückzuführen zu sein scheinen. Die Frau hat ihn
schon früher im Bus bemerkt, manchmal winkt er, manchmal
taumelt er, manchmal ruft er laut und wild nach Leuten, die
gar nicht da sind. »Ganz recht, Captain!« hat sie ihn sagen
hören. »Ganz recht, ganz recht!«
Er greift die Frau an, die auf den Bus wartet; die Polizei vermutet später, daß er hinter Geld für Drogen her war. Wie auch
immer. Er ist tot, was immer er auch gewollt haben mag. Es ist
eine gefährliche Gegend. Die Frau hatte ein verstecktes Messer
bei sich. Sie holt es während des Kampfes heraus. Als der Bus
kommt, liegt der ehemalige Soldat sterbend im Straßengraben.
Was haben Sie gelesen ? fragt ein Reporter sie später; sie zeigt
ihm The Stand von Stephen King.
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Entfernt man die Verkleidung der Semantik behutsam und
legt sie beiseite, so scheinen diejenigen, die die Horror-Geschichten kritisieren (oder die sich einfach unbehaglich füh«
len, weil sie sie mögen), folgendes zu sagen: Sie verkaufen;
fod undVerstümmelung und Monstrositäten; sie machen ein
Geschäft mit Haß und Gewalt, Morbidität und Abscheu; sie
sind nichts weiter als Repräsentanten der Kräfte des Chaos,
die heutzutage die Welt so sehr bedrohen.
Sie sind, kurz gesagt, unmoralisch.
Nachdem Dawn of the Dead in die Kinos gelangt war,
fragte ein Kritiker George Romero, ob er der Meinung wäre,
ein solcher Film, mit seinen Szenen voll Blut, Kannibalismus
und fröhlicher Pop-Brutalität, sei ein Zeichen für eine gesunde Gesellschaft. Seine Antwort war der zuvor zitierten
klassischen Antwort von Hitchcock ebenbürtig, er fragte den
Kritiker, ob er der Meinung sei, die fehlerhafte Konstruktion
der DC-10-Motoren sei ein Zeichen für eine gesunde Gesellschaft. Seine Antwort wurde als Ausflucht abgetan (»Man hat
den Eindruck, daß Romero diese Art von Übungsboxen gefällt«, kann ich den Kritiker beinahe denken hören).
Nun, sehen wir nach, ob die Ausflucht tatsächlich eine Ausflucht ist - und gehen wir eine Schicht tiefer, als wir bisher gegangen sind. Es ist spät geworden, der letzte Walzer wird gespielt, und wenn wir jetzt nicht bestimmte Dinge sagen, werden wir sie wohl niemals sagen.
Ich habe durch dieses ganze Buch hindurch zu sagen versucht, daß die Horror-Story unter den Fangzähnen und der
grusligen Perücke in Wirklichkeit so konservativ wie ein Republikaner aus Illinois im dreiteiligen Nadelstreifenanzug ist;
daß ihr Hauptanliegen ist, uns den Wert der Norm deutlich zu
machen, indem sie uns zeigt, was für gräßliche Dinge geschehen können, wenn Menschen ins Land der Tabus wandern.
Im Rahmen der meisten Horror-Geschichten finden wir eine
so ausgeprägte Moral, daß ein Puritaner seine helle Freude
daran haben würde. In den alten E.-C.-Comics führte Ehebruch unweigerlich zu einem schlimmen Ende, und Mörder
erlitten ein Schicksal, gegen das die Streckbank und der glühende Eisenschuh wie Kinderfahrten auf dem Rummelplatz
aussehen würden.* Moderne Horror-Geschichten unter
* Mein ewiger Favorit (sagte er vernarrt): Ein wahnsinniger Ehemann
schiebt seiner mageren Frau einen Druckluftschlauch in den Hals und
bläst sie auf wie einen Ballon, bis sie platzt. »Endlich dick«, sagt er Au
scheiden sich nicht so sehr von den moralischen Stücken des
fünfzehnten, sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts
wenn wir ihnen auf den Zahn fühlen. Die Horror-Story ist für
gewöhnlich nicht nur ein Bollwerk der Zehn Gebote, sie bläst
sie auf die Größe der Boulevardpresse auf. Wenn im Kino das
Licht ausgeht oder wir ein Buch aufschlagen, dann können
wir uns dem angenehmen Gefühl hingeben, daß die Bösewichter fast sicher bestraft werden und Gleiches mit Gleichem vergolten wird.
Darüber hinaus habe ich eine pompöse akademische Metapher benutzt und darauf hingewiesen, daß die Horror-Geschichte im allgemeinen den Ausbruch eines dionysischen
Wahnsinns in einer apollinischen Existenz schildert und daß
der Horror anhält, bis die dionysischen Kräfte ausgetrieben
wurden und die apollinische Norm wiederhergestellt worden
ist. Wenn man den wirkungsvollen, wenn auch rätselhaften
Prolog im Irak wegläßt,
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