Danse Macabre
Schlitzohr) scheinen die Amerikaner wirklich sehen zu wollen; wenn Amerikaner ins Kino
gehen, dann wollen sie Reklameflächen, keine Ideen; sie
möchten das Gehirn an der Kasse abgeben und Autounfälle,
Eierkuchen und amoklaufende Monster sehen.
Ironischerweise erforderte es einen europäischen Regisseur, den Italiener Sergio Leone, den archetypischen amerikanischen Film zu schaffen; zu definieren und typologisieren,
was die meisten amerikanischen Kinobesucher tatsächlich
wollen. Was Leone in A Fistful of Dollars (dt: Für eine Handvoll Dollar), For a Few Dollars More (dt: Für ein paar Dollar
mehr) und am grandiosesten in Once Upon a Time in the West (dt: Spiel mir das Lied vom Tod) getan hat, kann man nicht
einmal zutreffend Satire nennen. O. U. A. T. I. T. W. speziell ist eine gewaltige und wunderbar vulgäre Übertreibung
der ohnedies schon übertriebenen Archetypen des amerikanischen Western. In diesem Film sind Schüsse so laut wie
Atomexplosionen; Nahaufnahmen scheinen manchmal minutenlang an einem Stück zu dauern, Schießereien stundenlang; und die Straßen von Leones eigentümlicher, kleiner
Westernstadt sind so breit wie Autobahnen.
Wenn also jemand fragt, wer Mary Shelleys sprachgebildetes Monster mit seiner Ausbildung aus Die Leiden des jungen
Werthers und Das verlorene Paradies in einen Pop-Archetyp
verwandelt hat, dann lautet die richtige Antwort darauf, die
Filme. Gott weiß, die Filme haben schon unwahrscheinliebere Dinge zu Archetypen gemacht - struppige Bergleute
mit Läusen, die vor Schmutz strotzten, wurden zu stolzen und
stattlichen Symbolen des Wilden Westens (Robert Redford in Jeremiah Johnson, oder nehmen Sie einen Film von Sunn International Ihrer Wahl), dumme Killer werden zu Repräsentanten des sterbenden freien Geistes Amerikas (Beatty und
Dunaway in Bonnie and Clyde), und selbst Inkompetenz
kann zum Mythos und Archetyp werden, etwa in den Blake
Edwards/Peter Sellers-Filmen, in denen der verstorbene Seilers den Inspektor Clouseau darstellt. Im Kontext solcher Archetypen betrachtet, haben die amerikanischen Filme ihr eigenes Tarotblatt erschaffen, und die meisten von uns sind mit
den Karten vertraut, Karten wie dem Kriegshelden (Audie
Murphy, John Wayne), dem starken und schweigsamen Friedensoffizier (Gary Cooper, Clint Eastwood), die Hure mit
dem goldenen Herzen, der verrückte Schurke (»Top of the
world, mal«), der unfähige, aber lustige Papa, die tüchtige
Mama, der Junge aus der Gosse auf dem Weg nach oben und
ein Dutzend weitere. Es erübrigt sich zu sagen, daß alle diese
Schöpfungen Stereotypen sind, die mit unterschiedlicher
Schläue entwickelt wurden, aber der Widerhall, das kulturelle Echo, scheint auch in den unfähigsten Händen vorhanden zu sein.
Aber wir unterhalten uns hier nic ht über den Kriegshelden
oder den starken, schweigsamen Friedensoffizier; wir unterhalten uns über den allzeit populären Archetyp »Das Ding
ohne Namen«. Wenn überhaupt ein Roman die gesamte Periode »Buch-zum-Film-zum-Mythos« überspannt, dann ist es Frankenstein. Er war Gegenstand eines der ersten Filme mit
einer »Geschichte«, die je gedreht wurden, eine Filmrolle
lang, in dem Charles Ogle die Kreatur spielte. Ogles Darstellung des Monsters brachte ihn dazu, sich das Haar auszureißen und das Gesicht anscheinend mit einer Art getrocknetem
Bisquit zu verhüllen. Thomas Edison hat den Film produziert. Derselbe Archetyp ist heute als Gegenstand einer CBSFernsehserie zu sehen, The Incredible Hulk, der es gelungen
ist, zwei der Archetypen miteinander zu verbinden, von
denen wir hier sprechen …, und das mit nicht unerheblichem
Erfolg. (Man kann The Incredible Hulk als Geschichte um
einen Werwolf und als Geschichte um ein Ding sehen.) Ich
muß aber gestehen, daß ich mich nach jeder Verwandlung von
David Banner in den unglaublichen Hulk frage, wohin zum
Teufel die Schuhe des Burschen verschwinden und wie er sie
zurückbekommt. *
Wir fangen also mit den Filmen an. Aber was hat aus Frankenstein einen Film gemacht, und das nicht einmal, sondern
immer und immer und immer wieder? Eine Möglichkeit ist
die, daß die Geschichte, wenngleich von den Filmemachern,
die sie gebraucht (und mißbraucht) haben, ständig verändert
(pervertiert, möchte man sagen), für gewöhnlich doch die
herrliche Zweischneidigkeit enthält, die Mary Shelley in ihre
Geschichte eingebaut hat: Einerseits ist der Horror-Autor
Vertreter oder Vertreterin der Norm, er oder sie möchte, daß
wir nach dem Mutanten Ausschau
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