Daphne - sTdH 4
leiser Stimme: »Bitte verlassen Sie
sofort das Haus, Sir.«
»O nein,
jetzt müssen Sie mir zuhören, oder es wird Sie bis zu Ihrem letzten
Stündchen reuen. Ich habe Ihren Vater belauscht und ihn ganz deutlich sagen
hören: ›Ich weiß, was Brabington quält. Es ist die Tatsache, daß ich dir ein
Kind verschaffen konnte, und er nicht!‹«
»Unsinn«,
sagte Daphne. »Gehen Sie hin und erzählen Sie Ihre Geschichte. Mein Vater wird
Sie anzeigen – und Sie können den Rest Ihrer Tage im Irrenhaus verbringen.«
»Aber Sie
sehen doch, daß ich ganz sicher bin. Denken Sie doch nur an dieses pummelige
kleine Baby, und denken Sie an Ihren Vater. Bedenken Sie auch, daß Brabington
es nicht ertragen kann, das Kind auch nur anzusehen.«
»Nein. Es
kann einfach nicht wahr sein.«
»Aber es ist wahr. Ich bin nicht der Dummkopf, für den Sie mich halten. Inzest! Und von
einem Pfarrer! Sie würden in die Geschichte eingehen.«
Daphne mußte
sich setzen. Mr. Archer wirkte so überzeugt, so sicher.
»Sie
glauben doch nicht, daß ich es wagen würde, so etwas zu behaupten, wenn es
nicht wahr wäre«, fuhr er hartnäckig fort. »Ihre Schwäger sind sehr mächtig,
ganz zu schweigen davon, daß sie in der Gesellschaft den Ton angeben.«
Daphnes
Lippen bewegten sich in stummem Gebet. Es durfte nicht wahr sein.
»Ich werde
meinen Vater fragen«, sagte sie kühn.
»Ja, tun
Sie das«, sagte Mr. Archer. »Ich zweifle nicht daran, daß er es abstreitet,
aber Sie können an seiner Reaktion erkennen, ob er unschuldig ist. Ich habe
nicht vor, sehr lange zu warten. Sollte ich zum Beispiel erfahren, daß Sie die
Annäherungsversuche eines anderen Mannes ermutigen, dann würde ich nicht
zögern, meine Geschichte zu verbreiten.«
»Gehen Sie
jetzt«, sagte Daphne und zwang sich, ruhig zu bleiben. »Ich schreibe Ihnen,
sobald ich mit meinem Vater gesprochen habe. Das bedeutet, daß ich nach
Hopeworth zurück muß. Sie müssen mir also Zeit geben.«
»Ich warte
auf Ihre Antwort«, sagte Mr. Archer. »Gefällt Ihnen meine Halskrause? Ich habe
sie selbst entworfen. Ich nenne sie die Archer. «
Daphne
stöhnte auf und rannte aus dem Zimmer.
Ihr erster
Impuls war, ins Frühstückszimmer zu laufen und ihr brennendes Gesicht in
Minervas Schoß zu vergraben und ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Aber
Minerva würde auf der Stelle alles Lord Sylvester berichten; dieser würde Mr.
Archer anzeigen, und dann käme die ganze furchtbare Angelegenheit heraus. Sie
konnte jetzt nie mehr Mn Garfield heiraten. Ihr eigener Vater! Ihre eigene
Schwester! Sie konnte es nicht glauben.
Auf der
anderen Seite hatte Daphne, obwohl sie erst seit ganz kurzer Zeit am
gesellschaftlichen Leben teilnahm, schon einige äußerst skandalöse Gerüchte
gehört. Auch in Hopeworth hatte es einmal einen Fall von Inzest gegeben. Das
Mädchen wurde weggeschickt, aber die Leute flüsterten weiter. Die Geschichte
war alt. Es war passiert, bevor Daphne geboren wurde. Aber immer noch sprachen
die Leute darüber.
Daphne
kannte nicht die volle Bedeutung des Wortes Inzest, weil sie nicht wußte, wie
Kinder empfangen werden. Aber instinktiv schrak sie davor zurück, wie man vor
namenlosem Horror zurückschrickt.
Ihr Kopf
war heiß und schmerzte, und sie wäre liebend gern ins Bett gekrochen, hätte die
Augen geschlossen und im Schlaf ihre Sorgen vergessen.
Statt
dessen setzte sie sich an ihren Toilettentisch, türmte ihr Haar raffiniert auf
und legte sorgfältig Rouge auf. Minerva mußte überzeugt sein, daß ihre
plötzliche Entscheidung, nach Hopeworth zurückzukehren, nichts weiter war als
die unbegreifliche Laune eines jungen Mädchens.
Der
Pfarrer stützte
sich müde auf seine Schaufel. Er trocknete sich die Stirn und schaute zum
Friedhofskreuz hinauf, dessen Silhouette sich gegen den sternenübersäten
Himmel abzeichnete.
»Bist du
fertig, Charles?« war die Stimme des Squire zu hören. »Wenn wir hier noch
länger stehen, sieht uns jemand und beschuldigt uns, Grabschänder zu sein.«
»Nun, wir
haben die Leiche von Miss Jenkins ja tatsächlich geraubt und auf geweihtem
Boden begraben«, grinste der Pfarrer.
»Du bist
ein tapferer Mann, Charles. Es ist eine schmutzige Arbeit.«
»Meiner
Meinung nach ist es Gottes Arbeit«, sagte der Pfarrer ernst. »Ich kann beim
besten Willen nicht glauben, daß Gott will, daß eine arme Seele wie Miss
Jenkins an der Wegkreuzung von Hopeworth mit einer Stange, die ihr Herz
durchbohrt, ihre letzte Ruhestätte finden soll. Aber bei
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